„Ich lese alles, was das Internet hergibt“
Von Christine Wahl
In ihren Arbeiten schaut die philippinische Choreografin Eisa Jocson unverblümt auf Körperbilder, Klischees und ihre Auswirkungen. Dafür erhält sie die Tabori Auszeichnung International 2023. Kulturjournalistin Christine Wahl im Gespräch mit der Ausnahmekünstlerin.
Eisa Jocson, Sie sind mit der Erfindung eines überaus originellen eigenen Formats in Ihre Karriere als Tänzerin und Choreografin gestartet: Sie haben das Pole Dancing – jenen Stangentanz, den man vor allem mit Nachtklubs assoziiert – mit politischem Aktivismus verknüpft und im Rahmen von „Guerilla-Pole-Dance-Performances“ an öffentlichen Kreuzungen auf den Philippinen, wo Sie geboren wurden, Ampeln oder Fahnenmasten erklettert. Wie kam es zu diesem spektakulären Berufsanfang?
Eisa Jocson: Ja, das stimmt, das ist ein ziemlich ungewöhnlicher Berufseinstieg – der damit zusammenhängt, dass ich tief in der Pole-Dance-Community auf den Philippinen verwurzelt bin. Ich gehörte zu den ersten, die diese Tanztechnik dort überhaupt erlernten: Meine Tante, der ich sehr nahestehe, animierte mich zu einem Kurs, den sie mir auch bezahlte, und kurze Zeit später habe ich selbst Pole Dance unterrichtet und wurde sogar zur stellvertretenden künstlerischen Leiterin der philippinischen Pole Dance Academy berufen.
Die Tanztechnik ist interessant, weil sich in ihr so vieles überlagert: Einerseits ist sie im Akrobatik- und Zirkusbereich verankert, andererseits verbindet man mit ihr eben vor allem Striptease-Bars. Weil Pole Dance allerdings auch ein unglaublich anspruchsvolles und dabei hocheffektives Körpertraining ist, hat er in den letzten Jahren, auch in (west)europäischen Ländern, eine steile Karriere als Fitness-Workout gemacht und Einzug in hochpreisige Sportstudios gehalten. Ist es diese Komplexität, diese Bündelung so vieler Zuschreibungen, die Sie als Künstlerin am Pole Dance reizt?
Jocson: Der Übergang vom Nachtklub-Milieu zur Fitnessindustrie ist tatsächlich der Punkt, der mich interessiert, weil mit ihm verschiedenartige Transformationen verbunden sind. Eigentlich war der Pole Dance – genau wie Sie sagen – mit dem Rotlichtviertel assoziiert und also mit einem Stigma behaftet: Als 'anständige' junge Frau praktizierte man diese Tanztechnik nicht. Klassische Mittelschichts-College-Studentinnen wie mich verband mit dieser Welt bis dato absolut gar nichts. Entsprechend waren die meisten Teilnehmerinnen des ersten Pole-Dance-Kurses auf den Philippinen auch reife Frauen in ihren 30ern, 40ern oder 50ern, die fest im Leben standen und sich um solche Zuschreibungen nicht scherten. Das Gemeinschaftserlebnis mit diesen Frauen war übrigens sehr prägend für mich, das hat meine Arbeitspraxis nachhaltig beeinflusst.
Was genau bedeutete denn, gesellschaftspolitisch betrachtet, dieser Einzug des Pole Dance ins Fitnessstudio?
Jocson: Damit ging ein radikaler Wandel seiner sozioökonomischen Funktion einher: Im Rotlichtviertel tanzten die Frauen ja für den männlichen Blick und wurden auch von Männern dafür bezahlt. Im Fitnessstudio dagegen bezahlen Frauen jetzt selbst dafür, Pole Dance zu lernen und zu praktizieren – und zwar für sich, in einer vorwiegend weiblichen Gemeinschaft und Umgebung. Es bleibt dieselbe Bewegungssprache, es sind sogar dieselben knappen Outfits – aber die sozioökonomische Funktion hat sich radikal verschoben.
Und damit auch die symbolische Bedeutung und das soziale Image des Pole Dance.
Jocson: Genau. Die Grenze zwischen dem Rotlichtviertel und dem Fitness-Studio ist in einem konkreten Sinn durchlässiger geworden: Stripperinnen sind zu Tanzlehrerinnen 'aufgestiegen' und haben innerhalb der Pole-Dance-Community einen regelrechten Promi-Status erreicht. Mittelschichtsstudentinnen fingen also plötzlich an, zu Star-Stripperinnen aufzuschauen.
In der Soziologie würde man von Aufstiegsmobilität sprechen. Zusammen mit dem anderen Aspekt – der weiblichen Selbstaneignung des Pole-Dance – lässt sich also eine doppelte Emanzipation beobachten: zum einen in klassistischer, zum zweiten in feministischer Hinsicht.
Jocson: Meine erste eigene choreografische Arbeit bestand dann darin, diese Transformation des Pole Dancing noch einen Schritt weiter zu treiben. Nachdem es aus dem geschlossenen Raum des Rotlichtviertels eben bereits in den halböffentlichen Raum des Fitness-Studios vorgedrungen war, ging es mir darum, es gänzlich in den öffentlichen Raum zu übertragen.
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs wären: Ihren Guerilla-Performances an Ampeln, Lichtmasten oder Geländern an Straßenkreuzungen, die Sie zudem mit Grafitti-Tagging kombinierten.
Jocson: Einer sehr männlich konnotierten Praxis, genau! Mein Ansatz bestand darin, die vertikale Stadtarchitektur – Ampeln, Verkehrsposten, Fahnenmasten – als eine disziplinierende Kontrollarchitektur zu markieren und neu zu besetzen: Diese Architektur definiert ja, wie man sich zu bewegen hat, wo man anhalten muss oder wann man gehen darf, wobei speziell der Fahnenmast einem gleichzeitig noch eine nationale Identität zuweist.
Diese Bedeutungsverschiebung und schlussendliche eigene Neu-Besetzung tradierter Räume, Bilder oder Praktiken ist in Ihren Arbeiten generell sehr präsent. In Macho Dancer adaptieren Sie beispielsweise einen erotischen Tanzstil, der normalerweise in den Nachtklubs in Manila von jungen Männern für ein zahlendes Publikum aufgeführt wird. Würden Sie zustimmen, dass in solchen Transformationspraktiken das Hauptmotiv Ihrer Arbeit liegt?
Jocson: Ich denke, das kann man so sagen – wenn man Verschiebung auch im Sinne von Reibung betrachtet. In Macho Dancer übernehme ich ja einerseits als Frau ein männliches Bewegungsvokabular. Andererseits eigne ich mir aber auch als privilegierte Mittelschichtsperson die Körpersprache eines Menschen aus einem sozial schwächeren Milieu an. Das ist zum Beispiel so ein Reibungsmoment.
Eine andere Form der Reibung entsteht in Ihrer Arbeit Princess, die die ikonisch gewordene Schneewittchen-Figur aus dem Walt-Disney-Imperium zum Ausgangspunkt nimmt: eine Figur, die weltweit entsprechende Vergnügungsparks bevölkert. Soziologisch motiviert ist diese Performance auch von Disneyland Hongkong, einem der größten Arbeitgeber für philippinische Tänzer*innen, der diese allerdings aufgrund ihrer Hautfarbe ausschließlich in den namenlosen Nebenrollen besetzt. Sie verpassen dieser Disney'schen Schneewittchen-Figur in einem Duett mit dem Performance-Künstler Russ Ligtas gleich mehrere produktive Verschiebungen und Verdrehungen.
Jocson: Auch hier gibt es verschiedene Reibungen – etwa die Besetzung eines weißen Archetyps durch einen braunen Körper oder das Kapern eines weiblichen Körpers durch einen männlichen. Das Duett verweist aber noch auf einen zweiten wichtigen Punkt, nämlich die subversive Macht der Kopie.
Subversiv deshalb, weil jede Nachahmung, jede – wenn man so will – Re-Inszenierung, strukturell die Möglichkeit zur Veränderung enthält?
Jocson: Genau. Die Strategie des Kopierens beinhaltet immer auch die Praxis der Dekonstruktion. Gerade, wenn sich das Original, wie es bei Disneys Schneewittchen der Fall ist, derart stark im kollektiven Bewusstsein der Menschen festgesetzt hat, lässt sich die Kopie hervorragend dazu nutzen, das Original quasi von innen heraus zu attackieren und zu sprengen. Ich denke, das beschreibt sogar eine generelle Kulturpraxis. Als Kinder auf den Philippinen sind wir zum Beispiel mit Disney aufgewachsen, haben diese Bilder für uns aber, glaube ich, immer schon in etwas anderes gewendet. Ähnlich wie die vielen philippinischen Bands, die ihren Lebensunterhalt mit dem Covern amerikanischer Songs verdienen, weil sie genauso gut sind wie amerikanische Bands, aber wesentlich billiger.
Sie führen ein richtiges Jet-Set-Leben: Mit Ihren Performances touren Sie im Stakkato zwischen renommierten Festivals in Asien und Europa, gleichzeitig wohnen Sie immer noch unweit der Hauptstadt Manila auf den Philippinen. Wie bekommt Ihnen das permanente Unterwegssein?
Jocson: Bis jetzt hat das Leben zwischen den Philippinen und dem Ausland für mich sehr gut funktioniert. Ich denke, das ist eine normale Daseinsform in den darstellenden Künsten: In gewisser Weise muss man einfach dorthin gehen, wo sich einem die entsprechenden Möglichkeiten bieten. Ich bin sehr froh, dass mein Netzwerk wirklich international ist. Auf den Philippinen gibt es keine Infrastruktur für darstellende Kunst – zumindest nicht für die, die ich praktiziere. Gleichzeitig sind die Themen, mit denen ich mich beschäftige, wirklich stark von meinem philippinischen Hintergrund geprägt. Ein zentrales Motiv ist für mich die Migration: Ein Großteil der philippinischen Bevölkerung arbeitet ja in Übersee, weil die meisten von uns gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt anderswo zu verdienen.
Auch unter diesem politischen, sozialen und soziologischen Aspekt ist die Beschäftigung mit Ihrem Land für Ihre künstlerische Arbeit zentral. Wie entwickeln Sie eigentlich Ihre Performances, wie sieht Ihr Rechercheprozess aus?
Jocson: Ich nehme mir sehr viel Zeit. Die Vorbereitung eines neuen Abends dauert ein bis zwei Jahre – abgesehen davon, dass ich meinen Körper trainiere und in einen neuen Kontext eintauche. Außerdem lese ich sehr viel.
Was lesen Sie denn konkret?
Jocson: Alles, was das Internet hergibt. Das Internet ist wirklich erstaunlich!
Erstaunlich ist allerdings auch, dass Ihre Arbeiten trotz ihrer prinzipiell tiefernsten Themen und ihrer immensen Komplexität hochgradig unterhaltsam sind. Wie wichtig ist Ihnen als Künstlerin der Entertainment-Faktor?
Jocson: Ich bin ein großer Fan der Reibung zwischen den Themen und den künstlerischen Mitteln. Irgendwie liegt das Absurde ja in der Natur der Dinge, und ich glaube, es ist auch genau das, was die Komplexität, von der Sie sprechen, überhaupt erst ausmacht. Deswegen adaptiere ich in meinen Arbeiten auch die Sprache der Unterhaltungsindustrie.
Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf die allerersten Schritte Ihres künstlerischen Weges schauen: Sie haben an der Philippinischen Hochschule der Künste in Manila studiert…
Jocson: …wo mich ein Professor kurz vor meinem Abschluss zur Seite nahm und mir einen sehr interessanten Rat gab.
Welchen denn?
Jocson: Er fragte mich, was ich nach der Uni vorhätte, und ich erzählte ihm dasselbe, was meine männlichen Kommilitonen ihm auch antworteten: Malen, performen, ausstellen – das Übliche halt. Da schaute er mich an und sagte: „Weißt Du, die Künstlerinnen, die ich kenne und die ihren Beruf erfolgreich ausüben, sind alle mit reichen Männern verheiratet.“
Oh.
Jocson: Ich glaube, er gab mir diesen Rat tatsächlich in allerbester Absicht, er ist einfach das Produkt seiner Zeit.
Jetzt haben Sie allerdings die internationale Tabori-Auszeichnung gewonnen – und auch damit wieder einmal höchstselbst erfolgreich Ihren eigenen Lebensunterhalt erwirtschaftet, in diesem Fall konkret ein Preisgeld von 15.000 Euro. Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?
Jocson: Zuerst war ich überrascht, weil ich den Preis und die Auszeichnung gar nicht kannte, und hielt die E-Mail für einen Fake. Dann habe ich recherchiert – und mich sehr gefreut. Es ist wirklich eine Auszeichnung zur rechten Zeit, weil sie mir die Bestätigung gibt weiterzumachen.