In der Nachbarschaft

Von Sebastian Köthe

Was heißt es, als Theaterkollektiv etwas Neues zu wagen? Was heißt es, wenn sich ein Kiez für die Verbesserung seiner maroden Infrastruktur einsetzt? Was passiert, wenn sich beides überschneidet? Sebastian Köthe im Gespräch mit Gob Squad über den Mehringplatz und das Theater.

„Wo kaufen wir ein?”

Ein riesiges Plakat vor einem trostlos leergeräumten Gebäude.

Auch wenn ich ein paar Straßen entfernt wohne: Es war auch mein Edeka gewesen. Viele Menschen – darunter ich – bauen eine intime Beziehung zu ihrem Supermarkt auf. Da stand man in der Corona-Zeit gleichzeitig bedrückt und irgendwie euphorisiert in der Schlange bis auf den Platz. Da ist man während der Halbzeit schnell hingerannt, um noch Chips und eine Cola zu kaufen. Da arbeitete der Verkäufer (sehr kurz), der anstatt „Euro“ immer „Meter“ gesagt hat: „Das macht sieben Meter fünfzig.“

Dieser Edeka ist jetzt geschlossen und damit der einzige größere Supermarkt im Umkreis von einem Kilometer für die 6.000 Menschen, die am Mehringplatz leben. Der kürzlich gegründete „Revolutionäre Anwohner*innenrat“ (RAR) hat das Plakat über dem ehemaligen Supermarkt aufgehängt. Auf einem anderen steht: „Wer repariert den Aufzug?“ Die Aufzüge in den Hochhäusern am Platz fallen regelmäßig aus und werden teils über Monate nicht repariert. Auf einem weiteren Plakat heißt es: „Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?“ Es hängt am Haus der Kreuzberger Musikalischen Aktion, wo Jugendlichen Proberäume für ihre Bands zur Verfügung gestellt werden. Das Haus ist „marode und teilweise einsturzgefährdet“, soll aber erst in mehr als zehn Jahren saniert werden.

Am Mehringplatz werden einem die städtebaulichen Boshaftigkeiten der Gegenwart immer wieder bewusst. In den Straßen, die Richtung Besselpark oder Mendelssohn-Platz führen, wurden in den vergangenen Jahren in Windeseile Luxuswohnungen gebaut. Zum Beispiel das sogenannte Metropolenhaus, dessen Maisonette-Apartments unter dem Slogan „Mitwirken am Interkulturellen Mosaik“ sofort verkauft waren. Trotz des Aufrufs zur Teilhabe habe ich dort noch nie Plakate hängen sehen, dass die Aufzüge kaputt oder die Mieten zu hoch seien – es sind ja Eigentumswohnungen. Der Mehringplatz ist dafür über 12 Jahre eine riesige Baustelle gewesen, deren sichtbares Ergebnis mit zwei Fahrstühlen, dem Ab- und Aufbau der Viktoria-Statue und etwas Grün unverhältnismäßig mager scheint.

Johanna Freiburg von Gob Squad erzählt mir, dass ihre Gruppe aktuell am, über und mit dem Mehringplatz arbeitet. Ich hatte einige Stücke des deutsch-britischen Theaterkollektivs in der Volksbühne und im HAU Hebbel am Ufer gesehen. Zuletzt „Are You With Us”, „half group therapy, half performance nightmare”. Darin stellten sie sich die Frage, wie man nach 30 Jahren Zusammenarbeit als Kollektiv noch weitermachen könne – und wozu eigentlich. Wie überrascht man ein Publikum, das einen schon so gut kennt? Das auf der eigenen Website schon in einer ausführlichen FAQ alles über die eigene Geschichte und Arbeitsweise (Schreibprozess, Improvisation, Medialität …) nachlesen kann? Kann man unter diesen Bedingungen noch neue Prozesse und ein neues Publikum finden?

Ich merke schnell, dass Gob Squad mitten in einem künstlerischen Umbruchprozess stecken – mitten auf dem Mehringplatz. Nicht zuletzt die Coronajahre haben sie angestoßen, sich auf konkrete, lokale Orte einzulassen. Dafür bauen sie auf der Arbeit von Stella Konstantinou von HAU to connect auf, dem Vermittlungsprogramm des HAU, und holen sich Impulse von den britischen Theatergruppen Common Wealth und Duckie. Diese sind unter anderem bekannt für die Inklusion diverser Publika auf die Bühne und in den Zuschauer*innenraum. Common Wealth sind Expert*innen dafür, Menschen von den Rändern der Gesellschaft zu den Protagonist*innen ihrer experimentellen Theaterarbeiten zu machen und sie gleichzeitig als Publikum zu gewinnen. Darunter so unterschiedliche Gruppen wie muslimische Boxerinnen, Stahlarbeiter, Liebhaber von umgebauten Autos oder Betroffene von häuslicher Gewalt. Duckie haben auf Einladung von Common Wealth ein Stück in Cardiff produziert, für das nur Karten erwerben konnte, wer eine Seniorin oder einen Senior ins Theater mitbrachte – weil diese das eigentliche Zielpublikum darstellten, aber oft aus Gründen der Altersarmut und Vereinsamung nicht ins Theater gingen oder gehen konnten.

Bisher haben Gob Squad, so erzählt es Freiburg, durch die Kreation von flüchtigen Momenten und spontanen Begegnungen mit Passant*innen und Zuschauer*innen darauf hingearbeitet, zwischenmenschliche Barrieren abzubauen. Obwohl sie das Theater immer wieder mit dem städtischen Raum kollidieren ließen, sei das Publikum doch relativ homogen geblieben. Der Ansatz von Common Wealth und Duckie aber liegt darin, die Publikumsansprache nicht von der Werbung oder dem fertigen Stück aus zu denken, sondern in den kreativen Prozess einzubinden.

Anstatt spontan Passant*innen zu involvieren, experimentieren Gob Squad nun damit, verbindliche Beziehungen einzugehen und die Ko-Autorschaft zu teilen. Die Künstler*innen teilen größere Anteile ihrer Zeit, Ressourcen und Handlungsmacht mit den Mitspielenden, die nun mehr Möglichkeiten haben, ihre Communities ins Theater mitzubringen, dessen Protagonist*innen sie selbst geworden sind. Solche Verschiebungen sollen ein Othering vermeiden: indem die Mitspielenden nicht nur unter dem potentiellen Handlungsdruck einer Spontanbegegnung agieren, sondern reflektierter entscheiden können, was sie wie teilen und präsentieren wollen. Indem sie nicht mehr vor einem (nur) fremden Publikum spielen, sondern auch für ihre Communities. Dass diese mit ins Theater kommen können, kann allerdings schnell am Geld oder an Senatsvorgaben, die die Ausgabe von vergünstigten Tickets oder Freikarten limitieren, scheitern. Deshalb ist ein inklusives Theater immer auch eine Frage des politischen Willens und nicht nur der künstlerischen Ästhetiken und Arbeitsweisen.

Von den Proberäumen und Spielstätten des HAU aus betrachtet, schien der Mehringplatz für Gob Squad nur einen Katzensprung entfernt. „Seitdem wir selber dort arbeiten, merken wir, wie weit weg sich das HAU von dort aus anfühlt, welche Trennlinie die Stresemannstraße bedeutet.” Viele Menschen dort „wissen gar nicht, dass es das HAU gibt oder was sich dahinter verbirgt.“ Der Mehringplatz wirkt von innen „wie eine abgeschlossene Welt“.

Erst wenn man mehr Zeit an Orten wie dem Mehringplatz verbringt, merkt man, wie „übergriffig“ es ist, ihnen von außen Themen und Narrative aufzudrängen, anstatt sie aus dem Ort selbst heraus zu entwickeln. Gob Squad verstehen sich am Mehringplatz als Gäst*innen und besuchen zum Beispiel seine vielfältigen Chöre, die dort auf überschaubarem Raum proben – manche singen selbstgedichtete Texte nach Noten, andere essen, trinken und tanzen zusammen, wieder andere teilen über die Musik Erinnerungen und Geschichten. „Wenn man sich einfach nur über den Platz bewegt, nimmt man vieles gar nicht wahr“, erzählt Freiburg. In einer kommenden Produktion wollen Gob Squad zeigen, wie viel „positive Kraft, Energie und Liebe die Menschen in der Nachbarschaft füreinander aufbringen.“

Für Gob Squad ist die neue Arbeitsweise auch mit Sorgen verbunden gewesen. „Wir haben ja eine Expertise, eine Erfolgsformel. Warum soll das nicht mehr gut sein?“ Das fanden auch manche der langjährigen Produktionsstätten und sahen nicht die Notwendigkeit einer solchen Selbstbefragung. Schließlich war die ergebnisoffene Prozessförderung der ideale Anstoß, die eigenen Produktionskonventionen zu überprüfen und über den Tellerrand zu schauen. Dabei ist die Freiheit eines solch offenen Prozesses auch irritierend: „Wir hatten uns versprochen, es ist ergebnisoffen. Aber wir dachten sehr schnell: ‚Ah, jetzt wissen wir, worum es geht und wie das Stück aussehen wird!‘ Wir mussten lernen, uns zu zügeln, um offen zu bleiben.“ Diese Offenheit ist ein ethisches Moment im Entwicklungsprozess, denn Gob Squad „möchten nicht wie jemand sein, der einem Gegenüber Fragen stellt, aber sich selbst die Antwort gibt“.

Es scheint, als wäre die Gob Squad FAQ bald um einige Fragen zu erweitern.

Und vielleicht hängt ja auch am HAU bald ein meterlanges Plakat:

„Wo sind die Freikarten für unsere Nachbarschaft?“

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Dr. Sebastian Köthe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Ästhetik der Zürcher Hochschule der Künste.