Kampf den Schubladen

Von Georg Kasch

Kunst trotz(t) Krise (Folge 1): Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds Darstellende Künste? Folge 1: Jana Zöll hat in ihrer #TakeCareResidenz den Zusammenhang zwischen Normen und Zuschreibungen erforscht.

Kopflosigkeit ist selten ein schöner Zustand, kann aber ganz neue Perspektiven eröffnen. In diesem Fall auf den Körper. In Jana Zölls Zoom-Performance „Ich bin“, entstanden im Februar 2021 in der Reihe „Challenge Accepted“ am Theater der Jungen Welt Leipzig, sieht das Publikum die Performerin erst ganz am Ende. Davor legt Zöll Spuren: Post its, auf die sie ihre Eigenschaften geschrieben hat, Fotos von früher, die nur Ausschnitte zeigen – und einen Gipsabdruck ihres Körpers ohne Kopf.

Jana Zöll, Performerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Inklusionsberaterin, lebt mit Glasknochen und sitzt im Rollstuhl. Dass sie als abweichend von der Norm wahrgenommen wird und welche Folgen das hat, thematisiert sie in „Ich bin“. Normalerweise überlagert der optische alle anderen Eindrücke: Entweder wird Zöll als unzulänglich bewertet oder als Heldin des Trotzdem mystifiziert. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Zuschauer*innen der Performance erst ein Bild von ihr machen, dass sich aus unterschiedlichsten Details und Eigenschaften zusammensetzt, bevor sie sie sehen.

Jana Zöll sitzt im Rollstuhl. Sie trägt ein blaues Kleid, ist geschminkt und hat ein goldenes Band um beide Handgelenke gelegt, das sie in die Kamera hält. © Steven Solbrig

Der Gipsabdruck in der Performance ist einer der sichtbaren Ergebnisse von Zölls #TakeCare-Residenz „Too queer to be queer – ich bin die Antithese” am Freien Werkstatttheater Köln. Diese Residenzen sind eine von insgesamt elf Förderprogrammen, die der Fonds Darstellende Künste als Teil von Neustart Kultur 2020 auf den Weg gebracht hat, um die Freie Szene möglichst umfänglich und flächendeckend in der Corona-Krise zu unterstützen. Als der Fonds sein Residenzprogramm im Herbst 2020 auflegte, kooperierte er mit dem Bündnis internationaler Produktiosnhäuser und mit Flausen+, das freischaffende Künstler*innen vor allem mit kleinen freien Theatern abseits von Ballungsgebieten vernetzt und fördert. Über Flausen+ und das Freie Werkstatttheater hatte Zöll gemeinsam mit dem von ihr mitgegründeten Performance-Kollektiv Polymora Inc. https://polymora-inc.org bereits eine Vorgängerresidenz.

Mit Polymora Inc. hatte sich Zöll intensiv mit identitätspolitischen Fragestellungen auseinandergesetzt, aber immer den Eindruck, in keine Kategorie reinzugehören: „Ich hadere ein bisschen mit der Identitätspolitik.“ So ergab sich auch Zölls Forschungsschwerpunkt: Wie passt eine Frau mit Behinderung in die identitätspolitischen Debatten? Wie sehr sind Fremd- und Eigenwahrnehmung von all den Schubladen, Kategorien, Normen in unserer Gesellschaft geprägt? Und wie kann es gelingen, die Deutungshoheit über den eigenen Körper zumindest in Ansätzen wiederzuerlangen?
„Ich brauchte Wissen“, sagt Zöll. Sie recherchierte im Netz und las Fachliteratur wie den im Transcript Verlag erschienen Band „Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht“. In der Experimentierphase setzte sie sich mit ihrem Körper und Bewegung auseinander und lernte Aufstellungsarbeit nach Wilfried Nelles. Für diese Methode legte sie zum Beispiel Zettel mit Begriffen wie „Weiblichkeit“ und „Normativität“ auf den Boden, um in ihrem Energiefeld innere Bilder entstehen zu lassen. Klingt ein bisschen esoterisch, hatte aber ebenfalls Auswirkungen auf ihre Performance: Dort sammelt sie auf Zetteln Begriffe, mit denen sie zeigt, wie stark sich die Eigenschaften überlappen, die einerseits Männern und nichtbehinderten Menschen, andererseits Frauen und Menschen mit Behinderung zugeschrieben werden.

In dieser Forschungsphase entstand auch der Gipsabdruck ihres Körpers. „Es ging darum, den eigenen Körper zu externalisieren, ihn betrachten zu können“, erzählt Zöll. Eigentlich wollte sie mit dem eigenen Körper Kontaktimprovisation tanzen können. Denn die Corona-Pandemie war für Zöll insofern eine besondere Herausforderung, als sie als Risikopatientin ihre Leipziger Wohnung lange nicht verlassen durfte, es keine leibhaftigen Begegnungen mit anderen Künstler*innen gab. Deshalb musste alles in der eigenen Wohnung stattfinden: Recherche, Körperarbeit, Proben. Mit wem also hätte sie tanzen sollen?
„Der Gipsabdruck kann etwas, was ich nicht kann: Er steht“, sagt Zöll und lacht. Fürs Tanzen allerdings erwies er sich als zu unbeweglich und schwer. „Ich hatte noch mehr Ideen daraus entwickelt, die ich aber letztlich nicht umsetzen konnte“, sagt Zöll. Zum Beispiel den Plan, den Gipsabdruck an Orten in Leipzig aufzustellen und die Reaktionen der Passant*innen darauf mit der Kamera einzufangen. Dass das nicht möglich war, ist nicht weiter dramatisch, denn genau dafür sind die Residenzen ja da: um zwei Monate lang recherchieren und etwas ausprobieren zu können, auch jenseits eines Produktionszwangs. „Es gab keinen Druck, ein performatives Ergebnis abzuliefern“, erzählt Zöll. „Auch nicht vom Werkstatttheater. Es geht in den Residenzen ja darum, dass man in der künstlerischen Praxis bleibt.“

Von den TakeCareResidenzen des Fonds Darstellende Künste hat Jana Zöll gleich ein zweites Mal profitiert. Mit Steven Solbrig bildet sie das Performance-Duo Jane Blond and that Stevil Kniewel. Gemeinsam und in Kooperation mit dem Frankfurter Mousonturm forschen sie zu Care, Assistenz, Pflege und Hilfe. In einem Blog dokumentieren sie ihre Ergebnisse.
Überhaupt hatte Zöll viel Glück während der Corona-Pandemie: Alle ohnehin geplanten Residenzen und Kooperationen fanden statt, wenn auch online – und die zwei #TakeCareResidenzen ermöglichten es ihr darüber hinaus, konzentriert an ihren Themen zu arbeiten, auch wenn es viel weniger Auftrittsmöglichkeiten gab.
Solbrig war – neben ihren Assistenzen – während Corona auch ihre einzige Kontaktperson. So konnte zumindest in dieser zweiten Residenz ein leibhaftiger Austausch entstehen. Vor ihrer „Too queer to be queer“-Residenz war sie entweder als ausführende Schauspielerin engagiert oder Teil eines Kollektivs. Nun war sie als Künstlerin wie als Forscherin zum ersten Mal auf sich gestellt: „Alleine im luftleeren Raum und ohne konkretes Ziel – das war eine echte Herausforderung.“

Eine Auseinandersetzung mit Identitätspolitik und sich selbst, aus der dann – auch wenn das keine Bedingung für eine Residenz ist – mit der Zoom-Lecture-Performance „Ich bin“ etwas sehr Produktives entstanden ist. Warum ihr Gipsabdruck ursprünglich keinen Kopf hatte, weiß Zöll nicht mehr – vermutlich hatte das praktische Gründe. „Aber das macht total Sinn“, sagt sie heute. Denn auch in der Performance setzt sie mit den schon erwähnten Spuren ein Bild von sich zusammen, als weiß, europäisch, mit Abitur und Schauspielausbildung, als weiblich, ledig, hetero.
Vor allem aber berichtet sie davon, wie sie von ihrer Umwelt schon früh aufgeteilt wurde: in einen defizitären Körper und einen Kopf, auf den sie sich, weil klug und „einigermaßen hübsch“, konzentrieren sollte. Sie erzählt, dass sie sich Weiblichkeit, Körperlichkeit, Erotik erst erarbeiten musste. Und sie fragt das Publikum: Was für einen Eindruck haben Sie von mir?
Dass der Abend szenisch eher zurückhaltend arbeitet, hat wieder etwas mit den Beschränkungen durch Corona zu tun. Dass er so sehr „lecture“ geworden ist, findet Zöll allerdings auch passend. Denn in der Recherche hat sie auch viel über sich selbst gelernt: „Ich bin einfach ein verkopfter Mensch.“

In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?