Kompliz*innen: Strukturen gemeinsam neu erfinden

Von Esther Boldt

Drei Labs erforschen die Strukturen kollektiven Arbeitens und gemeinschaftlicher Prozesse in Bezug auf Inklusion, Care-Arbeit und das Verhältnis zwischen Stadt und Land. Unsere Autorin Esther Boldt hat mit ihnen gesprochen.

Auch wenn der Mythos vom isoliert arbeitenden, allein und aus sich selbst heraus schöpfenden Künstler*innen-Genie noch immer wirksam ist, haben sich kollektive Arbeitsweisen gerade in den Freien Darstellenden Künste längst etabliert. Es ist ein kultureller Wandel, der die Positionen der*des singulären Künstler*in infrage stellt und neue Praxen gemeinsamen Handelns etabliert – und zwar permanent. Denn in Kollektiven und Kompliz*innenschaften werden Arbeitszusammenhänge, wie die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Mieke Matzke einmal schrieb, „immer wieder neu hervorgebracht und ausgehandelt“. Die Bedingungen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit können auch als Freiraum begriffen werden, den es immer wieder neu zu organisieren und zu erforschen gilt. Für die Philosophin Gesa Ziemer ist gerade dieser kreative Umgang mit Strukturen, ihre Veränderung, Adaption oder gar Neuerfindung, ein zentrales Merkmal der Kompliz*innenschaft.

Wie künstlerische Praxen, die einzelne Performancekollektive entwickelt haben, miteinander in Beziehung gesetzt werden können, untersucht das „Trainingslager für entspannte kollektive Zusammenarbeit“, initiiert vom Hamburger Verein Eucrea e.V. Im Dezember 2022 trafen sich bei Kampnagel acht Performancegruppen, um im Rahmen des „Democratic Bootcamp“ ein gemeinsames Stück zu entwickeln. In vier dieser Gruppen arbeiteten Künstler*innen mit Behinderung. Jeweils in Tandems untersuchten sie, was geschieht, wenn künstlerische Praxen geteilt und in einen gemeinsamen Prozess überführt werden. Wie können künstlerische Prozesse in diesem neuen Kollektiv initiiert und verhandelt werden? „Wie lässt sich eine gemeinsame Sprache finden, wie kann gemeinsam etwas entwickelt werden? Wie finden Entscheidungen statt, bei denen jede Person gehört und beteiligt wird?“, fasst Projektleiterin Jutta Schubert einige der Fragen zusammen, die während der gemeinsamen Arbeit entstanden. Zeit spiele, so Schubert, bei dem Prozess kollektiver Stückentwicklung eine wichtige Rolle. Beim Artist Lab „Theater der Entspannten“ werden die Erfahrungen der Kollektive ausgewertet, Wünsche der beteiligten Künstler*innen für die Zukunft zusammengetragen, neue Formate der Zusammenarbeit erdacht und zukunftsfähige Strategien entwickelt. Zudem werden die Recherchefragen auf Publikum und Zugänglichkeit erweitert.

Kollektive Arbeitsweisen sind häufig temporär und in Veränderung begriffen: Ihre Strukturen sind verhandelbar, sie verändern sich auch mit den Bedürfnissen oder Notwendigkeiten der Mitglieder. Die Potenziale und Kraft kollektiver Prozesse erkundet auch das „WITH CARE: Action Lab zwischen Theater, Publika und Sorgearbeit“. Während der Pandemie begannen Liz Rech, Annika Scharm und Sylvi Kretzschmar das Blog-Projekt „BEYOND RE:production“. Sie notierten Klischees und Vorurteile, aber auch strukturelle Schwierigkeiten, mit denen sich Künstlerinnen konfrontiert sehen, wenn sie Kinder bekommen. Denn oft wird ihnen, in dem Moment, in dem sie Mütter werden, die Fähigkeit zur Kunstproduktion abgesprochen und die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit erschwert. Im Rahmen ihres Labs erweitern sie nun ihr Kollektiv: In Gesprächen mit Vertreter*innen von Institutionen der Freien Darstellenden Künste, mit Intendant*innen, Kurator*innen und anderen Expert*innen tauschen sie Erfahrungswissen aus, um ein Toolkit zu entwickeln.

Dabei geht es ihnen nicht mehr ausschließlich um Mütter, sondern auch um andere Sorgetragende, andere Werktätige, die stärker eingebunden sind in ihrem sozialen Umfeld. Das zu entwickelnde Toolkit soll Hinweise darauf geben, wie die Bedürfnisse von Care-Arbeitenden berücksichtigt werden können – bei den Transformationen, die viele dieser Institutionen zurzeit ohnehin durchlaufen, etwa wenn es um Fragen der Zugänglichkeit und der Publika geht. Es sollen Handlungsempfehlungen entstehen, die Arbeitsprozesse auch bedürfnisorientiert gestalten. Denn derzeit bewegen sich die Arbeitszeiten in den Darstellenden Künsten oft weit entfernt vom Arbeitsschutz und außerhalb der Öffnungszeiten kommunaler Kinderbetreuung. Für Sylvi Kretzschmar stellt sich dadurch die grundsätzliche Frage: „Wie wollen wir das Erlebnis Theater künftig organisieren?“ Ob asynchrone Probenprozesse, Premieren am Nachmittag oder parallel stattfindende Vorstellungen des Kinder- und Jungendtheaters: Die Vorschläge sind schon jetzt zahlreich.

Die Herausforderungen der aktuellen ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse sind nicht im Alleingang zu bewältigen, davon ist auch das siebenköpfige „Kollektiv nachhaltige Kultur“ überzeugt. Die Herausforderungen bedürfen der Überwindung etablierter Grenzziehungen, zwischen Wissenschaft und Kunst ebenso wie zwischen Stadt und Land. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich während der Pandemie das Verhältnis von Stadt und Land verschob, sucht das Kollektiv konkret die Beziehung zwischen Berlin und Brandenburg neu zu denken. Seit 2020 entwickelte das Kollektiv gemeinsam mit zahlreichen Akteur*innen vor Ort die fiktive Region OderlandBerlin, rief einen Bürger*innenrat ins Leben und begann bei virtuellen „Transvisionen“, die Grundlagen für die erste zukunftsfähige Region Deutschlands zu entwickeln.

Innerhalb der aktuellen Transformationsprozesse können die Künste, so Regisseurin Anne Schneider vom Kollektiv nachhaltige Kultur, „Erfahrungsräume schaffen, die diese Prozesse erforschen und mögliche Antworten liefern. Die Künste sind zum einen wichtige Experimentierräume, zum anderen schaffen sie es, theoretisches Wissen in sinnliche Erfahrung zu überführen.“ Auch Organisationsforscherin Anke Strauß sieht das große Potenzial in der künstlerisch-wissenschaftlichen Allianz.

Im Artist Lab „Allianzen einer nachhaltigen Kulturpraxis“ werden die Erfahrungen der Region OderlandBerlin nun ausgewertet, mit neuen Öffentlichkeiten geteilt und weiterentwickelt. Auch hier ist deutlich geworden, dass die Zusammenarbeit zwischen Stadt- und Landbewohner*innen besonders gut gelingt, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht. Es bedarf der Dauer und der Hartnäckigkeit, um Vertrauen zu schaffen, langfristige Kompliz*innenschaften und eine Kunst, die das Gegenüber wirklich meint und einbezieht. Nur so kann ein neues Beziehungsgeflecht zwischen Kunst, Wissenschaft, Aktivismus und Zivilgesellschaft entstehen, das neue Wege beschreitet.

Im Rahmen der Bundesweiten Artist Labs entwickeln Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen kollektive Prozesse und Strukturen, die mitunter weit über künstlerische Prozesse – im engen Sinne – hinausgehen. Sie erproben und sammeln kompliz*innenhafte Arbeitsweisen und öffnen diese auch für größere Kollektivitäten, um Potenziale der Nachhaltigkeit und Wandel auszuloten.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Esther Boldt studierte in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft. Sie arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin, unter anderem für nachtkritik.de, Theater heute, tanz Zeitschrift, den Hessischen Rundfunk und Deutschlandfunkkultur. Seit 2019 leitet sie gemeinsam mit Philipp Schulte die Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus.