Kultur ist ein Grundnahrungsmittel
Von Christine Wahl
Am 11. Oktober 2023 wird der Theaterpreis des Bundes 2023 verliehen. Im Vorfeld führte Kulturjournalistin Christine Wahl ein Gespräch mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth über den Theaterpreis, die Bedeutung von (Theater-)Kunst und ihre eigenen Theatererfahrungen.
Frau Roth, in Ihrer Ausschreibung zum Theaterpreis des Bundes 2023 lobten Sie vor allem „die Freiheit der Kunst, unbequem zu sein, provozieren zu dürfen und den Finger in alte und neue Wunden des gesellschaftlichen Diskurses zu legen“. Mit welcher Aufführung ist es dem Theater denn zuletzt gelungen, Sie in diesem Sinne zu provozieren, und in welcher Wunde lag der Finger dabei konkret?
Claudia Roth: Beim FIND Festival an der Schaubühne in Berlin hat mich das Stück ست (ist) aus dem Iran sehr beeindruckt. Diese Produktion ist wirklich ein gutes Beispiel dafür, was Theater leisten kann. Großartig fand ich auch die letzte Inszenierung der „Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble, die deutlich machte, wie brandaktuell Brecht immer noch ist.
Sie haben zum Theater eine spezielle Verbindung, kennen es aus professioneller Perspektive: Schon als Abiturientin hospitierten Sie am Landestheater Schwaben in Memmingen, studierten anschließend in München einige Semester Theaterwissenschaft, arbeiteten in den 1970er Jahren als Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Dortmund und waren Mitglied bei Hoffmanns Comic Teater in Unna. Was hat Sie als Jugendliche fürs Theater eingenommen, worin bestand Ihr dramatisches Initiationserlebnis?
Meine Eltern waren sehr kulturinteressiert und wollten eigentlich auch einen künstlerischen Beruf ergreifen: Mein Vater hatte den Traum, Profi-Sänger zu werden, und meine Mutter wollte Innenarchitektin werden. Doch bei beiden hat das Leben dann einen anderen Verlauf genommen, was vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhing. Trotzdem ist ihre Leidenschaft für Kunst und Kultur ein Leben lang geblieben. Deshalb haben sie mich auch schon als Kind oft ins Theater und in die Oper mitgenommen – und da hat meine große Begeisterung für Kultur ihren Anfang genommen, die Träume meiner Eltern sind also schon recht früh in mich übergegangen. Als ich dann später das Engagement am Theater in Dortmund annahm und dafür mein Studium abbrach, waren meine Eltern natürlich nicht übermäßig begeistert. Aber sie haben mich trotzdem weiterhin unterstützt, weil sie gespürt haben, dass ich genau das auslebe, was sie für sich erträumt hatten.
Stimmt es, dass Sie bereits an Hoffmanns Comic Teater mit Rio Reiser zusammenarbeiteten, dem Sänger der Band Ton Steine Scherben, deren Managerin Sie später wurden? In Ihrem Wikipedia-Eintrag steht, dass Sie 1976 an einer „Struwwelpeter“-Aufführung beteiligt waren, in der Reiser spielte.
Da muss ich etwas korrigieren. Rio Reiser habe ich erstmals im Theater in Dortmund kennengelernt, im Kindertheater. „Struwwelpeter“ war eine spätere Produktion.
Aber die „Struwwelpeter“-Aufführung hat damals große Aufmerksamkeit hervorgerufen, es gab eine kontroverse Debatte. Künstlerisch war die Produktion sehr interessant, weil Rio Reiser auch auf der Theaterbühne sehr faszinierend und ausdrucksstark war. Das gilt übrigens für die gesamte Band. Denn was viele nicht wissen: Ton Steine Scherben kommen eigentlich aus dem Amateurtheater, die Band ist 1970 aus dem Berliner Lehrlingstheater Rote Steine hervorgegangen. Dieser Hintergrund ist sehr wichtig für das Verständnis der Scherben. Denn ihre Musik, ihre Texte richten sich ja eben nicht an ein studentisches, intellektuelles Publikum – sondern an alle, gerade auch an einfache Arbeiter. Genau das war die große Kunst von Rio: Er hat es verstanden, die sehr komplexe Gesellschaftskritik der 68er in pure Emotionen zu verwandeln. Und auf diese Weise sind Ton Steine Scherben dann zum Soundtrack einer ganzen Generation geworden.
Wenn Sie heute an Produktionen wie jenen „Struwwelpeter“ zurückdenken: Wie hat sich das Theater aus Ihrer Sicht über die letzten Jahrzehnte verändert – und welche Aspekte daran erfreuen, welche bedauern Sie aber möglicherweise auch?
Wenn ich auf die „Struwwelpeter“-Aufführung zurückblicke, dann sehe ich zunächst eine erfreuliche Kontinuität: Auch heute ist Theater sehr politisch. Klimakrise und Globalisierung, Rassismus und Flucht, Diversität und Genderfragen – es gibt wohl kaum ein politisches Thema, das nicht auf die Bühne kommt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den politischen Herausforderungen der Zeit ist an vielen Theatern fast selbstverständlich geworden, was ich sehr begrüße. Und gerade dadurch hat Theater heute eine hohe politische und gesellschaftliche Relevanz.
Wenn ich das Theater der 70er- und 80er-Jahre mit dem Theater heute vergleiche, dann gibt es natürlich auch vieles, was sich verändert und weiterentwickelt hat. Das betrifft nicht so sehr das Künstlerische, sondern eher das Organisatorische. An zahlreichen Theatern werden zunehmend öffentlichkeitswirksam Fragen nach der Verteilung von Macht, nach Machtstrukturen und Machtmissbrauch offen gestellt. Das gilt sowohl für kleine und große wie für freie und öffentlich finanzierte Theater – wobei die freie Szene hier weniger Aufarbeitungsbedarf hat als die großen Mehrspartenhäuser, die eher mittelständischen Betrieben ähneln und wo Strukturveränderungen eher langsam realisiert werden können.
Gibt es Fähigkeiten oder Gewohnheiten, die Sie am Theater erworben haben und die für Ihr (Berufs-)Leben bis heute eine unabdingbare Rolle spielen?
Mein erster Job am Theater in Dortmund und meine Zeit bei Ton Steine Scherben haben mich tief geprägt. Dadurch habe ich den Kulturbereich von der anderen Seite kennengelernt. Ich weiß deshalb, was es bedeutet, wenn man den Kühlschrank öffnet und einfach nichts mehr drin ist und man sich überlegen muss, ob man sein Künstlersein aufgeben muss, weil man es sich schlichtweg nicht mehr leisten kann.
Gleichzeitig habe ich dadurch auch erfahren, welche Kraft eine gute Aufführung haben kann und wie unendlich erfüllend eine gelungene Performance auf der Bühne für eine*n Künstler*in sein kann. Zudem habe ich durch meine Arbeit am Theater gelernt, wie wichtig es ist, für jede Performance das richtige Kostüm auszuwählen – und das gilt übrigens auch für die Politik.
All diese Erfahrungen helfen mir bei meiner Aufgabe als Kulturstaatsministerin sehr. Grundsätzlich bin ich unendlich dankbar dafür, dass sich für mich ein Kreis geschlossen hat und ich jetzt jeden Tag aufs Neue die große Liebe für Kunst und Kultur mit meiner ebenso großen Liebe für Demokratie verbinden kann.
Ins Leben gerufen wurde der Theaterpreis des Bundes von Ihrer Amtsvorgängerin Monika Grütters. Sie lobte ihn seit 2015 biennal als „Ermutigungspreis“ aus – vor allem für kleine und mittlere Theater sowie Spielstätten der freien Szene jenseits der Metropolen. Sie vergeben die Auszeichnung in diesem Jahr zum ersten Mal. Verbinden Sie ähnliche Signale damit – oder setzen Sie andere Schwerpunkte?
Der Markenkern des 2015 erfolgreich eingeführten und inzwischen etablierten Theaterpreises des Bundes soll erhalten bleiben. Es handelt sich nach wie vor um einen „Ermutigungspreis“, der sich an kleinere bis mittlere Theaterhäuser in Deutschland richtet – an Theater also, die vor Ort unglaublich wichtige Arbeit leisten. Der Theaterpreis des Bundes möchte diesen Bühnen sozusagen eine Bühne geben. Es wird an diesen Theatern Unglaubliches geleistet – und das wollen wir würdigen, indem wir es bundesweit sichtbar machen und natürlich auch gebührend feiern!
Der Preis zeigt sich in einigen Aspekten verändert: Bisher wurden acht bis zwölf Häuser oder Ensembles mit Summen von jeweils 50.000 bis maximal 115.000 Euro ausgezeichnet; bei der jüngsten Preisvergabe 2021 erhielten etwa zehn Theater unterschiedslos 75.000 Euro. Dieses Jahr ist der Preis fokussierter: Es werden – bei einem Gesamtvolumen von 500.000 Euro – nur vier Auszeichnungen vergeben, die dafür im Durchschnitt signifikant höher dotiert sind: ein Hauptpreis à 200.000 Euro sowie drei Auszeichnungen zu jeweils 100.000 Euro in drei speziellen Kategorien – ausgewählt von je einer eigenen Jury. Welche Überlegungen stehen hinter diesen strukturellen und finanziellen Veränderungen?
Wir haben den Theaterpreis des Bundes nach seiner Etablierung 2015 und vier erfolgreichen Verleihungen weiterentwickelt. Da sich Theater in ihrer Organisationsform und in ihren Möglichkeiten oft sehr unterscheiden, wurden Kategorien geschaffen. So ist es besser möglich, Vergleichbarkeiten herzustellen – natürlich in dem Wissen, dass grundsätzlich kein Theater dem anderen gleicht. Die Einführung der Kategorien soll das Profil des Preises schärfen. Außerdem haben wir die Preisgala deutlich aufgewertet – für mehr Sichtbarkeit, öffentliche Aufmerksamkeit und Strahlkraft, die den ausgezeichneten Theatern, aber auch der Theaterlandschaft insgesamt zugutekommt. Der Theaterpreis des Bundes ist etwas Besonderes – eine hohe Auszeichnung, die eben nur einmal in zwei Jahren vergeben wird, zusammen mit drei weiteren, ebenfalls hoch dotierten Auszeichnungen. Die Vielfalt unserer Theaterlandschaft wird dadurch insgesamt in ihrer Sichtbarkeit gestärkt.
Während der Coronakrise, von der die Bühnen sich zurzeit gottlob erholen, wurde von Theaterleuten vielfach eingeklagt, die Kunst als systemrelevant anzuerkennen. Auch Sie betonen – als Kulturstaatsministerin – immer wieder ihre gesellschaftliche Funktion und setzen sich dafür ein, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Gleichzeitig leben Kunst und Kultur natürlich gerade von ihrer Unabhängigkeit und ihren Freiräumen. „Die Kunst als kreative, als unruhige, als kluge, als witzige und kritische Instanz kann nur bestehen, wenn sie sich eben nicht in den Dienst stellen muss“, argumentierte unlängst die Publizistin Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung. Sie könne, genau wie die Forschung, „nur existieren, wenn sie sich nicht dauernd als systemrelevant und nützlich behaupten“ müsse. Wie genau positionieren Sie sich in diesem Spannungsfeld?
Für mich ist Kultur ein Grundnahrungsmittel: Sie belebt und inspiriert, sie eröffnet neue Perspektiven und liefert Denkanstöße, sie stiftet Identität und Zusammenhalt, sie lädt zum Träumen ein und gibt Hoffnung. All das macht Kultur zu einem Lebenselixier für die Demokratie. Aber ich sage auch ganz klar: Kultur muss überhaupt nicht politisch sein und darf erst recht nicht zum Politikersatz werden. Kunst kann einfach nur sich selbst genügen, sie braucht keinen anderen Zwecken zu dienen außer sich selbst – auch das bedeutet Kunstfreiheit.
Welcher Aufführungsbesuch steht als nächstes auf Ihrem Programm – und wie viele Inszenierungen schaffen Sie sich als Kulturstaatsministerin pro Jahr anzusehen?
Es sind definitiv zu wenige! Mein Terminkalender lässt da leider nicht genug Spielraum. Ich gehe sehr gerne in großartige Theaterhäuser wie das Gorki Theater, das Berliner Ensemble, das HAU oder die Schaubühne, aber nicht nur. Genauso gerne bin ich im Theater Augsburg, in München, Frankfurt oder Hamburg, wo man immer wieder hochklassige Inszenierungen erleben kann.
Der Theaterpreis des Bundes wird in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI)
in Kooperation mit dem Fonds Darstellende Künste im Auftrag der
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vergeben.