Mit anderen Augen

Von Ralf Stork

Längst ist die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit auch im Theater angekommen. Wie flexibel sich das Thema interpretieren lässt, stellte das kollektiv:proton in einer Labor-Präsentation beim B.A.L.L. vor.

Auf den zusammengeschobenen Tischen liegt ein buntes Sammelsurium an Alltagsgegenständen: Tee- und Abflusssiebe, Lockenwickler, Kabelbinder, Klettverschlüsse, Kochlöffel, Rasierpinsel, Schutz- und Sonnenbrillen.

Was aussieht wie die Reste einer Haushaltsauflösung ist wichtiger Bestandteil des Workshops „Spielend Nachhaltigkeit weiterdenken“, in dem Laura Mirjam Walter und Maria-Alice Bahra von ihrer kulturellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der brandenburgischen Kleinstadt Luckenwalde berichten. Die beiden gehören zum kollektiv:proton, das im Umfeld des Berliner GRIPS Theater entstanden ist. Das Kollektiv experimentiert mit neuen Formen künstlerischer Prozesse außerhalb der offensichtlichen theatralen Arbeitsfelder. In Luckenwalde hat proton in den letzten beiden Jahren zwei Projekte mit Kindern und Jugendlichen realisiert. Unter anderem wurde bei „Uncealing Volksfeind“ eine Brachfläche in der Innenstadt entsiegelt und in ein riesiges Insektenhotel mit Blumenwiese verwandelt. In einem weiteren Projekt, das den Titel „Mit anderen Augen“ trägt, hat das Kollektiv zusammen mit Jugendlichen Straßen und Wege der Stadt aus der Sicht von Insekten erkundet.

Die Haushaltsgegenstände auf dem Tisch sind Überbleibsel dieser Arbeiten. Sie wurden in Trödelläden und Resterampen zusammengesucht. „Wir haben die Insekten beobachtet, gezeichnet und uns die Facettenaugen genau angeschaut“, sagt Bahra. Mit Kabelbindern, Sieben und den anderen Gegenständen konnten sich die Kinder und Jugendliche selbst in Insekten mit Fühlern und Facettenaugen verwandeln. Die Nachhaltigkeit aus dem Labor-Titel ist also auch ganz wörtlich zu verstehen: als Antwort auf die Frage, wie sich am konstruktivsten mit gebrauchtem oder aussortiertem Material arbeiten lässt.

Buntes Sammelsurium an Dingen auf einem Tisch: Rasierpinsel, Kochuntensilien, Lockenwickler, kleine Kabelbinder, Wäscheklammer. © Alexandra Polina

Schon das ist eine interessante Erkenntnis für die 15 Teilnehmenden, die an diesem Nachmittag am proton-Workshop auf Kampnagel teilnehmen. Viele von ihnen sind selbst an Kinder- und Jugendtheatern tätig und haben einen ständigen Bedarf an möglichst nachhaltigen und günstigen Bastelmaterialien für die künstlerische Arbeit.

Doch Nachhaltigkeit hat viele Aspekte. Das wird in der Vorstellungsrunde deutlich, in der alle ihre Fragen und Erwartungen an den Workshop formulieren. Häufig genannte Frage: Wie lässt sich das Thema Nachhaltigkeit Kindern und Jugendlichen vermitteln? Oder: Wie lassen sich die jungen Menschen nachhaltig für ein Projekt begeistern? Wie kann die Aufmerksamkeit an einem Nachmittag hochgehalten werden – oder gar über einen Projektzeitraum von mehreren Wochen und Monaten?

Kollektiv:proton ist nicht einfach wie ein Raumschiff in Luckenwalde gelandet. Von Anfang an gab es regen Austausch mit den Institutionen der Stadt: „Wir haben eng mit dem örtlichen Jugendclub KLAB zusammengearbeitet“, sagt Maria-Alice Bahra. Auch mit dem Luckenwalder „E-Werk“ und dem Gesangsverein ,,LYRA“ der Stadt gab es vorher schon Kooperationen. Die Stadtverwaltung war ebenfalls von Anfang mit im Boot und der Bauhof Luckenwalde hat uns bei der Entsiegelung im Stadtraum unterstützt. Ohne Einwilligung und Unterstützung der Stadt wäre es auch gar nicht möglich gewesen, die Brachfläche für „Uncealing Volksfeind“ zu finden, zu entsiegeln und wieder zu begrünen.

Die Kooperationen auf institutioneller Ebene waren wichtig, um die Kunstprojekte nachhaltig in Luckenwalde verankern zu können. Noch wichtiger war und ist die echte Kooperation zwischen Künstler*innen, Kindern und Jugendlichen.

Am GRIPS Theater wird viel Wert auf Partizipation gelegt. Laura Mirjam Walter ist Mitautorin des Buches „KINDER B(E)RATEN ERWACHSENE“, das mit Hilfe vieler Kinder und Jugendlicher entstanden ist. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, junge Menschen ernst zu nehmen und deutlich stärker in die Strukturen ihrer Institutionen und die Planung von Projekten einzubinden. Die Begegnung auf Augenhöhe sei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder und Jugendlichen wohlfühlen und langfristig bei der Stange bleiben, so Walter.

Die Projekte in Luckenwalde wurden mit möglichst wenigen Vorgaben gemeinsam entwickelt, von der Suche nach einer passenden Brache zur besten Umnutzungsidee, von der Annäherung an die Insekten bis zur Ausarbeitung einer Stadtrally.

Am Ende stand auf der ehemaligen Pflasterecke ein mehrere Meter hoher Hummelturm mit unterschiedlichsten Nist- und Brutmöglichkeiten. Der städtische Bauhof hatte in seinen Beständen noch zwei große Kabeltrommeln aus Holz gefunden und zur Verfügung gestellt. „Die Stadtverwaltung hat uns erzählt, dass es an dem Hummelturm bislang so gut wie keinen Vandalismus gab“, sagt Laura Mirjam Walter. Der Turm im Blumenmeer wird vermutlich auch deshalb in der Stadt akzeptiert, weil an seiner Entstehung so viele lokale Akteur*innen beteiligt waren.

Zum Abschluss des Projekts „Mit anderen Augen“ veranstalteten die Kinder und Jugendlichen ein Insektenquiz auf einem Stadtfest, 300 Bürger*innen machten mit. Auch die selbstgebastelten Insektenbrillen wurden präsentiert.

Auf Kampnagel wird an diesem Nachmittag ebenfalls gebastelt: Teesiebe verwandeln sich in Facettenaugen, Rasierpinsel werden zu Fühlern, die langen Klettverschlüsse zu Saugrüsseln. Zwischendurch wird noch eine Kiste mit Obst und Keksen herumgereicht. Noch so ein Mittel, um alle – vor allem Jugendliche – bei Laune zu halten: Essen!

Brille mit weißem Plastikgestell und goldenen Facettengläsern © Alexandra Polina

Während der Reflexionsrunde schauen die Teilnehmenden sehr zufrieden auf ihre einzigartigen Brillen und Skulpturen. Und ganz zum Schluss kommt noch ein weiterer Aspekt der Nachhaltigkeit zur Sprache: die Bedeutung einer dauerhaften Präsenz vor Ort. Jedes Projekt geht irgendwann zu Ende. Im schlimmsten Fall wird dadurch ein gerade erst entstandenes Vertrauensverhältnis zwischen Künstler*innen und Jugendlichen abrupt beendet. Bis zum nächsten Projektantrag und der nächsten Förderung, die nie ganz sicher ist. In Luckenwalde immerhin wird die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und dem kollektiv:proton weitergehen. Ein neues Projekt ist bereits in Vorbereitung.

Ralf Stork arbeitet als Natur- und Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er publiziert unter anderem für die Magazine Natur und Spektrum der Wissenschaft. Sein Interesse gilt der Vermittlung von Nachhaltigkeitsthemen und der Bedeutung von Biodiversität.


Das Projekt ,,Mit anderen Augen“ und der Workshop ,, Spielend Nachhaltigkeit (weiter)denken – Arbeiten für und mit Jungem Publikum“ des kollektiv:proton wurden gefördert im Rahmen des Förderprogramms GLOBAL VILLAGE KIDS des Fonds Darstellende Künste als Teil von ,,Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung” gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.