Neue Verbindungen, neue Erzählformen

Von Elisabeth Wellershaus

Auf der Abschlussveranstaltung zu den Bundesweiten Artist Labs 2023 (B.A.L.L.) wurde deutlich, wie engagiert die Freie Theaterszene den Austausch untereinander und mit dem Publikum sucht – und wie sie in herausfordernden Zeiten einen achtsamen Umgang miteinander pflegt.

Freitag, 20. Oktober 2023. Eben noch surrt und plaudert es im Foyer auf Kampnagel. Performer*innen, die für den B.A.L.L. nach Hamburg gereist sind, begrüßen einander überschwänglich. Journalist*innen treffen sich mit Kolleg*innen zum Kaffee, Besucher*innen staunen über die Projektstände, die in sämtlichen Winkeln der Kulturfabrik die Labor-Arbeiten vergangener Monate präsentieren. Doch gegen 17.00 Uhr betritt Sivan Ben Yishai die Bühne für die Eröffnungsrede. Und es wird still. Eine kaum greifbare Stimmung liegt an diesem verregneten Nachmittag in der Luft. Es soll dieses Wochenende um die Neuausrichtung der Freien Theaterszene seit Pandemieausbruch gehen, um das Suchen und Finden neuer Publika. Doch wie schwer die aktuelle Weltlage und politische Entwicklungen es machen, sich derzeit zu finden oder zu begegnen, haben die aufgeheizten Debatten vergangener Wochen gezeigt. So sind auch Eröffnungen von Kulturveranstaltungen in diesen Tagen Balanceakte. Sivan Ben Yishai hat die Rede, zu der sie nun ansetzt, bereits vor einer Woche bei der Verleihung des Theaterpreises des Bundes gehalten. Auch auf Kampnagel wird ihr damit etwas gelingen, was in diesen Tagen Seltenheitswert hat: In leisen, klaren Tönen wird sie staunend die Verwerfungen der Gegenwart umkreisen. Und wird von einem Theater sprechen, das gegenwärtig ebenso durch seine Kraft wie durch seine Fragilität geprägt ist.

Eine Frau steht auf einer Theaterbühne am Pult. © Alexandra Polina

Sivan Ben Yishai präsentiert zur Eröffnung des B.A.L.L. ihren Text „Theater der Leerzeichen“

„Bevor man sich versieht, kann die Theaterinstitution zu einem leeren Gefäß werden, das von der Macht und vom Rechtsnationalismus instrumentalisiert wird.“ Mit diesen Worten richtet Sivan Ben Yishai sich ans Publikum. „Bevor man sich versieht“, sagt sie, „kann [die Theaterinstitution] zu einem Schauplatz von aufgehetzten Diskursen gegen das Intellektuelle, gegen das Nicht-Binäre und das Dialektische werden.“ Eindringlich hallen ihre Worte durch die größte Halle auf Kampnagel. Kurator*innen und Intendant*innen, Künstler*innen, Friends und Family, Berufseinsteiger*innen und alte Hasen, Menschen, die sich verwobenen Communities zugehörig fühlen, sie alle lauschen der israelischen Dramatikerin, die hier auf poetische Weise brutale Realitäten streift. Aktuell, da die Worte oft poltern und die Positionierungsreflexe sich überschlagen, hält sie uns an, uns auf Zeiten zu besinnen, in denen Dichter*innen und Sozialarbeiter*innen, Geschichtsschreiber*innen und Erzähler*innen vielleicht noch mehr gebraucht werden als Politiker*innen und Militärexpert*innen.

Ihre Worte unterstreichen die Stimmung, die bereits zuvor im Foyer spürbar war. Diesem B.A.L.L. haftet nicht derselbe Kampfgeist an, der den Abschluss der Artist Labs im Vorjahr prägte. Nicht dieselbe Lust an der Konfrontation mit der Kulturpolitik. Vielmehr scheint der Fokus dieses Jahr recht deutlich auf empathischer Begegnung zu liegen. Viele scheinen auf die Möglichkeiten des Austauschs und der Synergien zu setzen und in trüben Zeiten auf ein trotz allem zu hoffen.

Im Kampnagel-Foyer steht ein Podest mit Sitzgelegenheiten. An dieser sogenannten Insel sitzen Menschen im Kreis und diskutieren. © Alexandra Polina

Insel-Zeit im Foyer von Kampnagel.

Die Künstler*innen der anwesenden Labs markieren mit ihren Themensetzungen, dass ein gemeinschaftlicher, transdisziplinärer Ansatz in postpandemischen Zeiten wichtiger denn je ist. Ihre in Form, Inhalt und Methoden gänzlich unterschiedlichen kreativen Auseinandersetzungen mit den vergangenen Jahren beschreiben, wie viel sich in dieser Zeit getan hat. Wie groß die Relevanz des multiperspektivischen Blicks aus freien Theaterprojekten sein kann und wie unterschiedlich sich das Verhältnis zwischen Publika und Performenden denken lässt. Zwischen klassischen Tischgesprächen und Paneldiskussionen können Besucher*innen sich – falls mit Badekleidung ausgestattet – im Freiluftonsen von raumlaborberlin begegnen, sie können an Bewegungs-Workshops teilnehmen, Performances von Rimini Protokoll und Simone Aughterlony besuchen oder sich abends mit dem Queereeoké-Kollektiv kreativ verausgaben.

Auf dem Weg zu den Hallen K1 und K4 hängen Schilder mit den Namen der 64 Labore von der Decke. Häufig taucht das Wort „Publikum“ auf, nicht selten in Kombination mit dem Zusatz „Zukunft“. So fragt etwa das Lab „neustart:publikum“ wie sich Zuschauende vor dem Hintergrund sich verändernder kultureller und gesellschaftlicher Kontexte stärker einbinden lassen, und die „Publikumversteher“ erforschen die Möglichkeiten interkollegialer Kommunikation. Ein anderes Lab trägt den Namen „Die Stadt als leere Kulisse“ und untersucht, wie sich innerstädtische Veränderungen auf Theaterpublika auswirken. Ein weiteres beschreibt mit den Worten „Gefordert, gefördert, getan“ wie die bundesweite Figurentheaterszene sich die zukünftige Publikumsanbindung vorstellt. Viele widmen sich der Verschränkung unterschiedlicher Bedürfnisse, dort wo die Ansätze freier Künstler*innengruppen auf die Auflagen und Vorstellungen von Förderinstitutionen und Kulturpolitik treffen. Aber nicht selten wird versucht, Widersprüche zusammenzudenken, vor allem auch Marginalisierungsfragen neu zu betrachten – etwa in den Laboren der Vierten Welt („gib mir ein kleines bisschen Sicherheit“) oder von Migrantpolitan („Kreative Allianzen schmieden“).

In einem beheizten Outdoor-Pool sitzen Menschen und sprechen miteinander. Eine Person hält einen aufgespannten Regenschirm in der Hand. Es ist am Abend und dunkel. In der Luft hängt der Dampf des warmen Wassers. © Alexandra Polina

Gespräche im Feiluft-Onsen

Auch Sivan Ben Yishai hatte in ihrer Rede von der Kraft der Neuausrichtung gesprochen. Sie hatte gesagt: „Vielleicht ist intersektionales Theater ein stilles, subversives Netzwerk, eine Technologie, die im Dazwischen operiert, im Leerzeichen, dem stummen Signifikanten, das, indem es Wörter trennt – eine Verbindung zwischen ihnen schafft, indem es still ist – eine Unterbrechung und Neuanordnung ermöglicht, indem es abwesend ist – Logik schafft, indem es eine Lücke ist.“

Der Eröffnungsabend auf Kampnagel deutet bereits an, wie ein kritisches, unabhängiges, wagemutiges Theater in diesen Tagen aussehen könnte. Doch er kündigt auch an, was an diesem Wochenende an überwältigender Fülle, an wer, wie, wo, was, wann auf die Besucher*innen zukommt. Um die Themenfülle, die sich gegenwärtig in der Freien Theaterszene bündelt, überhaupt in den Griff zu bekommen, war ein zehnköpfiges Gremium vom Fonds Darstellende Künste engagiert und mit der Auswahl der 64 Artist Labs beauftragt worden. Dieses Gremium versammelt Künstler*innen, die selbst alle Teil der Freien Szene sind, nun aber als beratende Instanzen für den Fonds auftreten und dadurch selbst zum Publikum werden. Als sie gen Ende der Eröffnungsveranstaltung auf die Bühne kommen, zeigt sich, wie gut diese Doppelrolle aufgegangen ist. Allein schon darin, dass Benjamin Foerster-Baldenius, Dan Thy Nguyen, Mable Preach, Moritz von Rappard, Laia Ribera Cañénguez, Eva Stöhr, Anne Schneider, Felizitas Stilleke, Mateusz Szymanówka und Caspar Weimann es geschafft haben, zu zehnt eine eindrückliche Rede zu verfassen.

Diese Rede beginnt mit einer Mahnung zu ausdifferenzierteren gesellschaftlichen Perspektiven. Mit der Aufforderung, sich zu „immer weiter erstarkenden menschenverachtenden rechtsextremen Tendenzen in diesem Land“ zu positionieren, „wie auch gegen jede Form nationalistischer Politik und radikalen Terrors weltweit.“ Darauf folgt in einer langen Ausführung, die von den Kurator*innen abwechselnd vorgelesen wird, die Auseinandersetzung mit den Arbeitspraktiken, die in den Laboren verhandelt werden.

Zehn Menschen sitzen aufgereiht auf einer Bühne. Sie halten Zettel in der Hand. Eine Schwarze Frau spricht in ein Mikrofon. Auf vielen Gesichtern ist ein Lächeln zu sehen. © Alexandra Polina

Eröffnungsrede des Gremiums zur Auswahl der Labs

Es bestehe ein großes Bedürfnis, Formen der Sprachlosigkeit zu erforschen, sagt Laia Ribera Cañénguez – gerade weil Kritik an sozialer Ungleichheit noch immer zu oft ungehört bliebe. Sie betont, wie wichtig es ist, Förderstrukturen zu erweitern oder umzuwandeln, damit migrantische, transnationale und mehrsprachige Künstler*innen Einstiege und Raum in der Freien Szene fänden. „Die von Förderorganisationen und Kunstinstitutionen praktizierten Hierarchien zwischen Künstler*innen, Publika und Personal“ müssten hinterfragt werden, um Rahmen und Formate zu schaffen, „die für Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit sensibilisiert sind.“

Mit der Förderung durch NEUSTART KULTUR hätte diese Auseinandersetzung bereits unter veränderten Bedingungen stattgefunden, ergänzt die Dramaturgin Felizitas Stilleke. „An manchen Stellen sogar ohne Erschöpfungszyklen und übermäßigen Druck – und wenn doch, dann wenigstens ein bisschen fairer bezahlt.“ Dies helfe einerseits aus prekären Arbeitsbedingungen heraus, und sorge andererseits dafür, „dass wir Beziehungen aufbauen und pflegen können, die notwendig sind für unsere Kunst, die nicht vom Werk, sondern vom künstlerischen Prozess und einem Miteinander ausgeht.“

Doch es bleibt ein Kraftakt, sich diesen Prozessen unter noch immer oft prekären Bedingungen anzuvertrauen. Das ist aus sämtlichen Foyer-Gesprächen an diesem Abend herauszuhören. Auch sprechen viele Künstler*innen darüber, wie erschöpfend es ist, sich aktuellen Debatten-Trends zu entziehen und sich nicht in hastigen Kommentaren zur weltpolitischen Lage zu verlieren. Kurator*innen und Künstler*innen erzählen davon, dass sie vor diesem Hintergrund nicht unbefangen zur Veranstaltung gekommen sind. Davon, wie erleichtert sie nach den Reden von Sivan Ben Yishai, dem Kuratorium und nach einem kurzen Auftritt von Amelie Deuflhard (Intendantin Kampnagel), Andreas Görgen (Amtschef BKM) und Holger Bergmann (Geschäftsführer Fonds Darstellende Künste) sind, die zwischen ernster Aktualität die eher leichten Töne suchten und meist auch fanden. Die Vokabeln, die ich in vorbeihuschenden Gesprächen an diesem Abend einsammle, wechseln von herausfordernd zu vielfältig, von emotional zu kühl, dicht zu zerfasert, laut zu eindrucksvoll, anstrengend zu wundervoll.

Eine Frau und links von ihr zwei Männer stehen auf einer Bühne. Die Frau und der Mann in der Mitte sprechen in ein Mikrofon. © Alexandra Polina

Amelie Deuflhard (Kampnagel), Dr. Andreas Görgen, Ministerialdirektor bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, und Holger Bergmann (Fonds Darstellende Künste) eröffnen den B.A.L.L.

Die einen sagen es deutlich, andere deuten es zwischen den Zeilen an: wie sehr sich das Sprechen über Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenleben in vergangen Wochen verrenkt und verschoben hat. Immer wieder geht es um die Gedanken, mit denen Sivan Ben Yishai die Veranstaltung eingeleitet hatte. Darum, dass man* sich Theater wie einen leeren Raum vorstellen könne, „in dem Solidaritäten wie ein politisches Myzel wachsen und sich im und auf dem Boden, zwischen und rund um Nationalismus, Rassismus und demagogischen Populismus ausbreiten könnten.“

In Momenten, in denen sich das Mitgefühl und ein gemeinsames Sprechen verengen, ist es an der Zeit, neue Räume zu schaffen und alte umzudeuten. Ben Yishai spricht von abstrakten, unerforschten Räumen – von Blank Spaces und Leerzeichen. Und schon am Eröffnungsabend klingen die Worte und Ideen einer radikal heterogenen Freien Theaterszene in diese Räume hinein.