Schreien, Atmen, Jammern, Singen

Von Georg Kasch

Die Gruppe SEE! erforscht in ihrer Residenz „ON Connection“ Klänge und Körperresonanzen.

Es ist dunkel. Bässe wummern leise. Man spürt, dass da andere Menschen sind, vor, hinter, neben einem. Aber nur manchmal dimmt das Licht so weit auf, dass man Umrisse der anderen Gäste und Performer*innen erkennt, Schemen. Orientierung bieten vor allem die Klänge und Wörter – ein PeterLicht-Text –, dazu ein riesiges aufblasbares Objekt, an dem man sich entlangtasten kann und das sich füllt und leert wie eine Lunge in Zeitlupe.

Als „resonierender Schwarm“ verbündet sich das Publikum

Klänge, Rhythmen, Menschen, verbunden in einer höchst sinnlichen, eher auf das Hören und Spüren fokussierenden Performance – was die Gruppe SEE! 2015 in „Ich bin ein Volumenjoker“ erprobte, zieht sich durch sämtliche ihrer Arbeiten. Seit 2013 arbeiten die Künstlerinnen SE Struck und Alexandra Knieps in wechselnden Kooperationen an Produktionen zwischen Tanz, Konzert und Immersion, also dem Teilhaben der Zuschauer- und Zuhörer*innen an einer ganz eigenen Welt. SEE!-Performances kommen einem ungewohnt nahe, kriechen einem gerade auch wegen der starken auditiven Komponente direkt unter die Haut.

„Resonierender Schwarm“ nennt Alexandra Knieps dieses Konzept, das das Publikum über Sounds und Bewegungen zu Verbündeten macht. „Die Klänge verbinden die Körper mal bewusst, mal unbewusst.“ Daran hat SEE! auch in ihrer durch das vom Fonds Darstellende Künste vergebene, über NEUSTART KULTUR finanzierte #TakeHeart-Residenz „ON Connection“ gearbeitet. Die Residenzförderung in Zusammenarbeit mit dem Bündnis internationaler Produktionshäuser (BiP) ermöglichte es der Gruppe, eine Woche gemeinsam mit dem Musiker Philip Zoubek im Tanzhaus NRW an neuen Klang-Körper-Wirkungen zu forschen.

Schwarz-weiß Foto von den Künstlerinnen SE Struck und Alexandra Knieps gemeinsam mit dem Musiker Philip Zoubek, der ein Keyboard vor sich hält. © SEE!

Wenn Körpern gesellschaftliche Resonanzräume fehlen

Dabei baute ihre Residenz auf die vorhergehende auf, die ebenfalls vom Fonds Darstellende Künste über das #TakeCare-Programm gefördert wurde. In „Staying with the trouble“ untersuchten sie gemeinsam mit den Tänzer*innen Anca Huma und Frank Willens auf PACT Zollverein Essen den Körper auf seine in der Pandemie „dekonstruierte Leiblichkeit“: „Was passiert mit dem Körper, wenn die gesellschaftlichen Erlebnisräume schrumpfen?“, fragt Knieps.

In „ON Connection“ ging es weiterhin darum, die Folgen der Pandemie für den menschlichen Körper und seine Resonanzräume zu untersuchen. Denn einerseits waren, so Alexandra Knieps, Klangräume im Lockdown enorm eingeschränkt, „gab es kein öffentliches Schreien, Atmen, Weinen, Jammern und Singen. Zugleich waren diese Momente noch im Körper gespeichert, etwa von gemeinsamen Konzerterlebnissen und ihren euphorischen Sounds“.

„Wir haben uns gefragt: Wie kann man das für die Gegenwart nutzen?“, erzählt Knieps weiter. „Deshalb haben wir uns die Soundwelten von Großereignissen vorgenommen, populäre Klänge, Melodien, die emotional resonieren.“ Mit Musiker Philip Zoubek, Spezialist für präparierte Klaviere, hatten SEE! schon 2016 in ihrer zwölfstündigen Durational Performance „The Hype“ zusammengearbeitet.

Wenn ein Whitney Houston-Song zu Blätterrauschen wird

In der gemeinsamen Woche im Tanzhaus NRW aber blieb der Flügel geschlossen. Stattdessen sammelten sie gemeinsam Ambient Sounds – Geräusche und Klänge, die bei gemeinschaftlichen Events entstehen wie Klatschen, Lachen, Singen, Jubeln. Sie legten ein Geräuscharchiv an, ergänzt durch eine Musikliste, in der neben Popsongs auch populäre Klassik – Mozart, Barock – ihren Platz hatte.

Diese Klänge und Songs verfremdete Zoubek mit einem Granular-Synthesizer, mit dessen Hilfe Töne in ihre Einzelteile zerlegt werden, die Grains – sehr kurze, digitale Klangfragmente, deren Länge üblicherweise unter 50 Millisekunden liegt. Aus dieser „Pixelisierung der Sounds“, wie Knieps es nennt, setzten sie gemeinsam neue, universelle Klangwelten zusammen. „Erinnerung trifft auf Gegenwart“, erklärt Knieps das Konzept. „Was mal ein Whitney-Houston-Song war, hört sich jetzt an wie Blätterrauschen.“ Auch der Bezug zur Natur war ja etwas, was sich während der Pandemie oft verändert hat. Diese neue Klang-Textur unterlegten SEE! mit Reden und Sprechakten.

Auf einer zweiten Ebene arbeiteten SEE! mit der Körper-Bewusstseins-Methode „Body-Mind-Centering“ (BMC), die in den 1970er Jahren von Bonni Bainbridge Cohen entwickelt wurde, um die im Körper abgespeicherten Erfahrungen gesellschaftlicher Ereignisse abrufen und tänzerisch sichtbar machen zu können. „BME geht davon aus, dass Körper und Natur das gleiche molekulare System besitzen“, sagt Knieps. „Dass also die Organismen ganz ähnlich funktionieren, das Außen und das Innen miteinander verbinden.“ So, wie ja auch das Konzept des resonierenden Schwarms Menschen und ihre Umgebung gemeinsam schwingen lässt und sie in Verbindung bringt.

Klangskizzen, die sich in der Residenz entfalten konnten

Erstes Resultat ist nun eine fünfzehnminütige Klangskizze, die SEE! für ein Publikum und eine Galerie-Situation ausbauen wollen. Ziel ist es, individuelle Hörbühnen zu schaffen, in der jede*r Hörer*in auf sich selbst zurückgeworfen wird. „Wir sind selbst ganz überrascht und begeistert von dem, was da jetzt entstanden ist“, sagt Alexandra Knieps. „Uns schwebt eine begehbare Klanginstallation vor, bei der Klang eine eigene Körperlichkeit bekommt.“

Eine notwendige Konsequenz aus der Residenzförderung ist die Live-Aufführung nicht. Das Programm ermöglicht es ausdrücklich, ohne konkretes Ergebnis zu forschen – etwas, das es in den Förderinstrumenten für die Freien Darstellenden Künste nicht gab, weil nur Produktionen und Wiederaufnahmen finanziert wurden. „Residenzen wie diese sind sehr wichtig für den künstlerischen Prozess, damit man sich nicht von Projektphase zu Projektphase hangelt, sondern Raum hat, um sich mit Themen vertieft auseinanderzusetzen“, sagt Knieps. In das Projekt „Still, still live“, das SEE! für den Herbst planen, ist die Residenzförderung „Staying with the trouble“ mit ihrer Naturrecherche direkt eingeflossen. „Diese Art von Förderung hat sehr gefehlt.“ Es wäre bitter, wenn sie jetzt, kaum dass die Pandemie ihrem Ende entgegengeht, wieder eingestampft würde.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.