Schwer zu fassen

Von Georg Kasch

In ihrem Rechercheprojekt „Chorisch denken“ setzt sich die Dramatikerin und Performerin Nele Stuhler mit dem Chor auseinander.

Chöre spielen selten die Hauptrolle. Wenn sie nicht gerade den Gefangenenchor „Va pensiero“ singen oder bei René Pollesch oder Marta Górnicka inszeniert werden, bleiben sie meist im Hintergrund. In der Oper sind sie dann inszenierte Staffage, in Inszenierungen antiker Dramen werden sie auf ein kleines Häuflein oder gar eine Solo-Stimme zusammengestrichen. Und die vielen Profi- und Laienchöre, die in ihren Programmen oft genug ohne Solist*innen auskommen? Sie waren während der Corona-Pandemie verstummt, in ihrem Selbstverständnis und ihrer Existenz bedroht.

Gründe genug, sich mit dem Chor auseinanderzusetzen, findet Nele Stuhler. „Er ist ein faszinierendes Wesen, einerseits überindividuell, kollektiv, andererseits gefährlich, weil er jederzeit in der Lage ist, das Leise, Individuelle zu überbrüllen.“ Die Dramatikerin, Hörspiel- und Prosaautorin ist Mitglied in mehreren Kollektiven (wie auch ein Chor eines ist): Mit Jan Koslowski schreibt sie und führt Regie, mit Falk Rößler bildet sie die Performance-Gruppe FUX. Außerdem hat Stuhler selbst eine ausgeprägte Chorvergangenheit: Sie hat in Chören gesungen, im Mädchenchor des Berliner Händel-Gymnasiums, aber auch danach. Als Sprech-Choristin war sie an den René-Pollesch-Abenden „Du hast die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors!“ (2009) und „Ein Chor irrt sich gewaltig“ (2009) beteiligt.

„Chorisch denken“ hat Stuhler ihre durch die Rechercheförderung des Fonds Darstellende Künste finanzierte Suche nach einer neuen Art genannt, mit einem Chor zu arbeiten. Man kann chorisch sprechen, atmen, singen. Aber wie genau kann ein chorisches Denken aussehen? Stuhler hat dafür „breit gelesen“ über Theorie und Wesen des Chores, „Kraftfeld Chor“ von Ulrike Haß, den Sammelband „Vor dem Palast – Gespräche über Einar Schleef“, „Lebhafte Materie“ von Jane Bennett, um nur wenige Titel herauszugreifen. Sie hat sich mit der Geschichte des Chores auseinandergesetzt, mit seiner Entstehung, dem antiken Chorlied, außerdem mit Dramatiker*innen, in deren Werken Chöre eine große Rolle spielen: Aischylos, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Thomas Köck, Anne Lepper, René Pollesch, Sibylle Berg … Und mit Regisseur*innen, die regelmäßig Chöre einsetzen: Volker Lösch, Ulrich Rasche, Marta Górnicka.

Ein Gemälde zeigt die französischen Revolution. Am Boden liegen tote und verletzte Menschen, über denen eine barbusige Frau die französische Flagge schwenkt. Hinter ihr stehen bewaffnete Männer. Auf diese ist ein Pfeil gerichtet, der mit „Chor“ beschriftet ist. © Nele Stuhler

Im Verlauf der Recherche hat sich das utopische Potenzial des Chores gezeigt: „Man kriegt gemeinsam was hin, was man alleine nicht schafft. Denn wenn Chorarbeit gelingt, dann entsteht da oft eine Schönheit, die sich selbst genügt.“ Ein Großteil dieser Forschungsarbeit fand am Schreibtisch statt, wo ihr der Gedanke kam: „Ist es nicht widersinnig, sich alleine mit dem Chor auseinanderzusetzen?“ Deshalb gab es auch Gespräche, etwa mit Christine Groß, Chorleiterin (und Performerin) bei Schleef und Pollesch, aber auch mit anderen ehemaligen Chorist*innen. Etwa darüber, wie ernst man genommen wird, wenn man als Teil eines Chores auftritt. „Die Hauptrollen sind cool; im Chor kann man nicht zeigen, dass man’s drauf hat.“ Schlimmer noch: „Wenn einer besonders gut sein will, klappt’s nicht mit dem Zusammenklang.“

Ein derart umfangreicher Lektüre- und Gesprächsplan war nur durch die Förderung des Fonds möglich. Normalerweise ist es so: Es gibt keine richtige Recherchezeit für Künstler*innen. Das merkt man Produktionen der Freien Szene mitunter auch an. Recherchen gelten als Teil eines Projekts und müssen in den jeweiligen Projektanträgen veranschlagt werden. Nur: „Wenn man dort schon alles genau beschreiben soll, kann man dann noch überzeugend Zeit für Recherchen in den Finanzplan schreiben?“, fragt Stuhler. Von einer konzentrierten Auseinandersetzung mit einem Thema profitieren aber nicht nur die recherchierenden Künstler*innen, sondern oft eine oder mehrere Folgearbeiten – und damit das Publikum. Das Recherchestipendium hat es Stuhler ermöglicht, sich auch mal in Sackgassen zu lesen und zu denken. Nicht jedes Buch, das sie aufschlug, trug Wesentliches zum Chorgedanken bei, nicht jedes Gespräch ließ die Synapsen knallen. Aber der Weg war wichtig, um das Thema grundlegend durchdenken zu können.

Auch wenn das Recherchestipendium ergebnisoffen gewährt wird – es muss nichts entstehen –, sind Stuhlers Lektüren und Gesprächen in ein Konzept für eine künftige Chorarbeit geflossen, in dem der Chor im Mittelpunkt steht, ganz ohne Solo-Gegenüber. Er kommt mit sich selbst ins Gespräch, spaltet sich auf, diskutiert in sich wandelnden Gruppen, widerspricht sich. Der Chor als „ein fluides Wesen, das schwer zu fassen ist“. Lässt sich so ein Chor kollektiv inszenieren, aus sich selbst heraus? Kann ein Chor improvisieren? Wie verabredet man diese Freiräume? Und wie wirkt das dann aufs Publikum? Fragen, die auf ihre praktische Einlösung warten.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.