Theater ist keine Bedienungsanleitung

Von Annette Stiekele

Rimini Protokoll zeigte beim B.A.L.L. auf Kampnagel die Produktion „Konferenz der Abwesenden“. Annette Stiekele sprach mit Daniel Wetzel, der zusammen mit Stefan Kaegi und Helgard Haug seit 20 Jahren zu aufregenden Theaterexperimenten einlädt.

Herr Wetzel, Sie zeigen seit 20 Jahren gemeinsam mit Stefan Kaegi und Helgard Haug ein einzigartiges Autor*innentheater. Sie haben Laien anstelle von Schauspieler*innen auf die Bühne gebracht, haben den Begriff „Expert*innen des Alltags“ geprägt. Ihre Stücke haben Sie aus dokumentarischen Recherchen heraus entwickelt. Was interessiert Sie heute an dieser Form des Theaters?

Daniel Wetzel: Wir wollen den Prozess des Entdeckens, der unsere Aufführungen prägt, auf der Bühne verlängern. Die Phase des bürgerlichen Theaters ist ja ein Husten der Geschichte, wenn man die Zeitstrecke betrachtet. Das war früher auf Marktplätzen viel partizipativer. Wir wollten eigentlich gar kein Theater, sondern Performance machen. Aber dann haben wir gemerkt, dass wir vor allem die Geschichten anderer Leute erzählen wollten. Und dass die Bühne ein Ort sein kann, an dem vieles für viele Menschen verhandelt werden kann.

Sie haben seit jeher eine Nähe zur Bildenden Kunst. Wie kommt diese Verbindung zustande?

Wir haben gemerkt, dass in den letzten 30 Jahren vor allem in der Bildenden Kunst entscheidende und radikale Prozesse stattgefunden haben. Die ganze Erfahrung mit Performance ist ja aus der Bildenden Kunst gekommen. Auch unsere ersten Arbeiten, in denen sich etwas anderes herstellte als das, was die damals noch oft von toxischen, männlichen Möchtegern-Diktatoren dominierte Theaterwelt produzierte. In der Kunstwelt gab es den lachenden John Cage, die strenge Marina Abramović und den experimentierenden Chris Burden.

Sie stechen auf Basis von dokumentarischen Recherchen in aktuelle gesellschaftliche Debatten hinein. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum Publikum beschreiben?

Ja, ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, zu recherchieren, Leute zu treffen, ihnen zuhören, später auch mit einigen zu schreiben. Erst forschen wir am „Was“, dann wollen wir das, was uns wichtig erscheint, weitererzählen, dabei geht es dann ums „Wie“. Und irgendwann ist das, was da zu einem Stück zusammengekommen ist, schlauer als unsere eigenen Gedanken zum Thema. 

In der „Konferenz der Abwesenden“ übernehmen Menschen aus dem Publikum mit Hilfe von Texten und Ansagen über Kopfhörer spontan die Identität von Konferenzteilnehmenden. Dadurch wird Ihr Konzept eigentlich auf die Spitze getrieben. Vom Anwalt eines Srebrenica-Täters bis zur geflüchteten Frau, die auf einer griechischen Insel festsitzt, werden Menschen vorgestellt. Es sind sehr spezifische Biografien. Welche Überlegungen zum Thema Identität stehen dahinter?

Eigentlich steht diese Arbeit komplett azyklisch zu manchen gesellschaftlichen Diskursen. Weil es im Stück ja gerade darum geht, dass marginalisierte Menschen eine Stimme brauchen, dass sie gehört werden sollen – und zwar auf eine Art, die sie nicht wieder als Minderheit stigmatisiert. Gesellschaft wird in diesem Fall als Konstrukt verstanden, in dem wir alle Minderheiten sind. An den Aufführungsabenden kann ich nur schauen, wer ich werde – zuhören, wer aus mir spricht. Ich muss erst lernen, wessen Stimme ich da ausdrücke. Ich repräsentiere nicht. Ich vertrete jemanden, aber das ist gar nicht unbedingt politisch gemeint. Es ist mehr ein Hinein- und Hinausschlüpfen, ein Ausprobieren. Das Stück ist so organisiert, dass, wenn ein Publikum nicht mitmachen will, es verschiedene Szenarien gibt – bis hin zum Abbruch. Das sind demokratische Prozesse.

Ist das ein soziologisches Projekt, eine Art Stadtanthropologie? Und wollen Sie die Menschen zur Aktion motivieren?

Wenn wir das wollten, dann hätten wir uns aber ganz schön verlaufen. Theater ist keine Bedienungsanleitung. Es ist eher gut für den Griff an die eigene Nase. Wir haben uns lange vor Covid gefragt: Wie kann unser Theater auf die Notwendigkeit der Dekarbonisierung eingehen? Wie wäre es, wenn niemand reiste? Wenn wir nur Tutorials verschickten. Wenn wir Reise- und Transportkosten umwandelten in Honorarkosten für Menschen, die dann das Stück einübten. Theater ist ein politischer Raum, aber kein Raum der Politik.

Auf einer Bühnen stehen ein Sofa, ein Sessel und ein Couchtisch. Dahinter befinden sich ein Bücherregal und mehrere große Zimmerpflanzen. Im Hintergrund ist eine Projektionsfläche zu erkennen. © Festival El Aleph Teatro UNAM

Wechselt Ihr Publikum stark nach Inhalt? Kommen bestimmte Leute zu spezifischen Themen oder interessiert sie die Machart?

Wir arbeiten häufig mit Leuten, die mit dem Theater normalerweise nichts zu tun haben. Dadurch hat sich das Spektrum erweitert. Ich denke, wir könnten da noch viel offensiver sein. Sicher bewegen wir uns in einer Blase. Theater sollten aber auch immer Orte des Feierns sein. Leichter zugänglich.

Wie setzen Sie sich mit unterschiedlichen Publika auseinander? Welche Erfahrungen haben Sie in unterschiedlichen Kontexten gesammelt?

Ich kann sagen, dass es speziell in Deutschland ein sehr aufgeschlossenes Publikum im Alter von 70 Plus gibt, das die ganze Neudefinition von Kultur als Motor von Teilhabe und Bildung kennengelernt hat. Auch mit jungen Leuten, die jetzt Anfang 20 sind, machen wir total gute Erfahrungen. Aber es gibt natürlich auch manchmal schwierige Erlebnisse, in denen Zuschauer*innen sich zum Beispiel rassistisch äußern. Mit denen gehen wir dann ins Gespräch. Ich finde, die Theater sollten Rechenschaft ablegen, darüber, wie sehr sie sich gemeinsam mit den Kunstschaffenden darüber Gedanken gemacht haben, für wen sie arbeiten.

Haben Sie es leichter, diverse Publika zu gewinnen, weil Sie sich jenseits des Frontaltheaters und auch des bildungsbürgerlichen Forums bewegen? 

Wir könnten das noch viel mehr machen und würden es auch gerne, aber wir sind ja nicht die Öffentlichkeitsarbeiter*innen. Wir haben parallel immer mehrere Stücke in Arbeit. Ich mache gerade ein Stück in Berlin-Marzahn. Da gibt es in direkter Nachbarschaft Wohnheime für Menschen ohne Wohnungen. Die interessiert das Theater gerade nicht, die haben existenzielle Nöte. Theater haben zwei Verantwortungen. Sie müssen reflektieren, wen sie einladen, aber sie müssen sich auch dagegen wehren, dass die Politik immer häufiger meint, mit-kuratieren zu müssen. Der Experimentierraum Theater wird enger.

Das Rimini Protokoll-Theater ist ja an sich schon ein Labor. Wofür eigentlich?

Für gesellschaftliche Wahrnehmung – und für Spaß. Es geht um den Spaß des „Inter-Esses“. Also des Dazwischen-Seins, einer Bewegung, die weg vom Selbst führt, hinein ins Unbekannte oder vermeintlich Bekannte.

In der Pandemie stand manchen Künstler*innen ungewohnt viel Geld zur Verfügung. Es gab die vielen NEUSTART KULTUR Förderungen. Gleichzeitig ging die Verbindung zum Publikum verloren. Wie schwer ist es jetzt, das Publikum zurückzugewinnen?

Ich glaube, dass der Fonds Darstellende Künste und der Hauptstadtkulturfonds gute Ideen haben. Da saugen viele Leute wie Frischlinge am selben Muttertier. Auch dank der Initiativen, Projekte auf dem Land zu fördern. Aber es sollten viel mehr Leute die Möglichkeit bekommen, am Prozess der Kulturproduktion zu partizipieren. Sich eingeladen fühlen, nicht nur zu kommen, sondern dabei zu sein, mitzumachen, Gespräche zu führen, ihren Bauernhof für ein Konzert zur Verfügung zu stellen. Dann passiert auch etwas gesellschaftlich zwischen Leuten, die sonst eher voreinander Angst haben. Die Institutionen investieren in Strukturen oder schaffen Stellen. Ich glaube, man müsste viel mehr in die Gesellschaft investieren.

Wo sehen Sie die Zukunft der Freien Szene im Theater? 

Es gab ja eine Zeit, in der man Spielstätten gegründet hat, einfach Räume geschaffen, und dann konnten die Leute kommen. Wir haben immer angeboten, dass wir Räume verändern, damit andere und neue Leute kommen. Das war unser Ansatz, mit dem wir im Stadttheater gearbeitet haben. Da hat sich in den letzten 20 Jahren ganz viel getan. Manchmal gibt es die experimentelleren Formen im Stadttheater und das biederere auf Freien Bühnen. Neues Publikum entsteht durch Neudefinitionen von Häusern. 

Annette Stiekele arbeitet seit zwanzig Jahren als Kulturjournalistin mit den Schwerpunkten Tanz, Theater und Kunst in Hamburg. Als Redakteurin und Autorin arbeitet sie unter anderem für das Hamburger Abendblatt, das Fachmagazin Tanz, die dpa, den NDR und das Art-Magazin. Mehrjährige Mitarbeit in der Jury des Hamburger Stadtteilkulturpreises und in der Jury Tanztheater der Kulturbehörde Hamburg.