Thüringen? Kein Problem!

Von Christine Wahl

Die Künstlerische Leiterin und Regisseurin Lizzy Timmers, die Schauspielerin Pina Bergemann und die Dramaturgin Hannah Baumann vom Theaterhaus Jena im Gespräch mit Christine Wahl über die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes in der Kategorie „Stadttheater und Landesbühnen“.

Frau Timmers, Frau Bergemann, Frau Baumann – herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung in der Kategorie Stadttheater und Landesbühnen beim Theaterpreis des Bundes! Gewöhnlich werden Gespräche wie dieses mit der Intendantin oder dem Intendanten des Hauses geführt. In Ihrem Fall ist das allerdings nicht möglich: Die Position existiert schlichtweg nicht. Was ist der Grund dafür, dass Sie sich explizit vom klassischen Intendanzmodell distanzieren?

Lizzy Timmers: Ich denke, dass einem viele großartige Ideen entgehen, wenn man sich in einer Position befindet, von der aus man Top-down-Entscheidungen trifft. Selbst, wenn man die Möglichkeit hat, in verschiedenen Gremien dabei zu sein, ist man wahrscheinlich viel weniger darin geübt, den anderen wirklich zuzuhören.

Das Theaterhaus Jena praktiziert als Stadttheater ein bundesweit einmaliges Modell: Es ist eine gGmbH, die den aktuell oder ehemals am Haus Tätigen gehört. Die Entscheidung über die Künstlerische Leitung obliegt den Gesellschafterinnen und Gesellschaftern und bis dato wurde das Theater stets von Teams geführt.

Timmers: Ich genieße diese Teamarbeit sehr! In Arbeitsbesprechungen gehe ich zum Beispiel grundsätzlich mit der Idee A hinein und komme mit den Ideen B, C, D und E wieder heraus – das ist absolut großartig. Außerdem sehe ich, dass unsere Spielerinnen und Spieler sich viel selbstbewusster durchs Haus bewegen, weil sie sich als Macherinnen und Macher begreifen und für den Ort entsprechend mitverantwortlich fühlen.

Pina Bergemann: Verglichen mit anderen Stadttheatern, an denen ich vorher gearbeitet habe, bietet das Theaterhaus Jena größere künstlerische Freiräume – mal ganz davon abgesehen, dass das klassische Intendanzmodell natürlich auch Machtmissbrauch begünstigt, weil dort sehr viel Macht in einer einzigen Person konzentriert ist. Angenommen, dieser imaginäre klassische Theaterchef, von dem wir bei diesem Modell ausgehen, führt dann auch noch selbst Regie und besetzt mich als Schauspielerin in seiner eigenen Produktion, mit der ich künstlerisch überhaupt nicht einverstanden bin, stecke ich in einem ernsten Dilemma: Soll ich das wirklich äußern? Im Zweifelsfall gefährde ich damit meinen Job.

Hannah Baumann: Dass es dagegen am Theaterhaus Jena ziemlich angstbefreit zugeht, kann ich bestätigen und ich merke auch, dass mich das in den künstlerischen Prozessen viel offener macht. Von der Arbeit an anderen Theatern kenne ich durchaus dieses Druckgefühl, die eigenen Punkte durchbringen zu müssen und nicht untergehen zu dürfen mit seiner Agenda. Am Theaterhaus Jena habe ich dagegen schon oft von Denkweisen oder künstlerischen Ansätzen gelernt, die ich zunächst eigentlich für mich ausgeschlossen hatte und von denen ich vermute, dass ich mich unter anderen Arbeitsbedingungen bis heute nicht für sie geöffnet hätte.

Das Team des Theaterhaus Jena mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor einer Fotowand © Dorothea Tuch

Das Team des Theaterhaus Jena mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth

Dieses emanzipatorische Moment, das Sie alle aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, liegt in der DNA dieser Bühne: Das Theaterhaus Jena ist in seiner jetzigen Verfassung aus dem bürgerschaftlichen Engagement der unmittelbaren Nachwendezeit hervorgegangen. Es wurde 1991 – nachdem Jena über vierzig Jahre kein professionelles Theaterensemble gehabt hatte – vom Schauspiel-Abschlussjahrgang der Berliner „Ernst- Busch“-Hochschule neu gegründet und zunächst auf ABM-Basis finanziert, bis es mit der Unterstützung prominenter Theaterleute wie Heiner Müller oder Frank Castorf gelang, die bis dahin städtische Bühne in eine gGmbH umzuwandeln, deren Gesellschafterinnen und Gesellschafter vornehmlich Ensemblemitglieder waren. Künstlerisch ist das Theater mit großen Namen verbunden: Die Schauspielerin Sandra Hüller, die Regisseurin Claudia Bauer oder der Musiker, Kabarettist und frühere Puppenspieler Rainald Grebe haben hier gearbeitet. Welche Rolle spielt diese Historie heute noch für Sie?

Bergemann: Man tritt wirklich ein großes Erbe an, wenn man hier beginnt, die Namen Bauer, Grebe und Hüller fliegen einem in den ersten Tagen tatsächlich nur so um die Ohren. Da setzt man sich erst mal völlig geplättet auf den nächstbesten Stuhl und denkt: Okay – und was machen wir jetzt hier eigentlich? (Lacht) In dieser Situation hilft es einem enorm zu wissen, dass die Belegschaft sich bewusst und konkret für einen entschieden hat. Denn dass man nicht in Ehrfurcht erstarrt, sondern irgendwann auch sagt: Gut, ihr habt dieses oder jenes bisher immer soundso gemacht, aber jetzt machen wir es anders, ist ja unbedingt gewollt und für alle Beteiligten wichtig.

Baumann: Ich finde, man spürt tatsächlich noch ein bisschen von diesem anarchischen Geist am Haus, es geht auf eine gute Art chaotisch zu. Wenn zum Beispiel Aufgaben verteilt werden – wer etwas Bestimmtes organisiert oder besorgt oder aufbaut –, erledigen das am Ende plötzlich alle. Das gefällt mir: Die Leute gestalten wirklich gemeinsam ihren Raum.

Was wird denn durch die Struktur des Theaterhauses konkret künstlerisch möglich, was in anderen Modellen nicht funktioniert?

Bergemann: Eines der größten Geschenke ist für mich, dass wir keine Abonnentinnen und Abonnenten haben. Das macht uns agiler: Wir müssen unsere Projekte nicht mit derart langen Vorlaufzeiten planen wie andere Häuser und können spontaner auf aktuelle Themen reagieren. Und das Publikum kommt trotzdem!

Eine Gruppe von fast 10 Menschen nimmt die Urkunde auf der Bühne entgegen. © Dorothea Tuch

Das Theaterhaus Jena nimmt die Auszeichung entgegen.

Was sicher auch mit Ihrem Anspruch zu tun hat, direkt auf Themen und Gegebenheiten vor Ort zu reagieren. Jena liegt in Thüringen – einem Bundesland, das in der Außenwahrnehmung vor allem mit dem NSU, mit Björn Höcke und einer hohen Zustimmungsrate zur AfD assoziiert ist. Wie erleben Sie Jena – und Thüringen – aus der Binnenperspektive?

Timmers: Als ich vor fünf Jahren mit dem Kollektiv Wunderbaum aus den Niederlanden ans Theaterhaus Jena kam, hieß unser erstes Spielzeitmotto: „Thüringen – kein Problem“. Und dieser Slogan schwebt für mich im Grunde bis heute über unserer Arbeit – was vor allem bedeutet, dass wir uns immer wieder intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie man in einer Gesellschaft, in der es solche extremen politischen Ansichten gibt, miteinander im Gespräch bleibt. Wir haben für unsere Theaterprojekte viele Interviews geführt, auch in den umliegenden Dörfern, und fanden es enorm interessant, welche Praktiken die Menschen dort entwickelt haben, um den Kontakt zueinander aufrecht zu erhalten, selbst wenn die politischen Meinungen maximal auseinandergehen. Ich selbst finde es wichtig, blasenübergreifend zu arbeiten und – obwohl man natürlich seine eigene Position und seine Grenzen klar formulieren sollte – Menschen nicht von vornherein abzukanzeln, sondern einzuladen. Als Herzenshippie war ich schon immer von der Hoffnung getragen, dass man mit Kunst – mit Theater – Leute für andere Pers- pektiven öffnen kann.

Bergemann: Man muss allerdings auch klar benennen, dass Jena eine Blase ist. Viele – und ich nehme mich da überhaupt nicht aus – sind total überrascht, wenn sie das erste Mal hierherkommen: Diese junge und linke Szene hier, die vielen Studierenden, diese schönen Altbauten mit den horrenden Mieten – das ist Jena? Die meisten kennen die Stadt nur von der Autobahn aus, wo man an den Plattenbauten vorbeifährt. Und natürlich ist Jena mit dem NSU verknüpft.

Baumann: Ich habe das Gefühl, dass es noch nicht genug queere, diverse Orte in Jena gibt. Das finde ich fürs Theaterhaus wichtig, dort noch einmal einen neuen Raum zu öffnen.

Prinzipiell gelingt es Ihnen offenbar gut, die verschiedensten Szenen, Milieus und Generationen für Ihre Aufführungen zu interessieren. Man kann bei Ihnen auch Menschen treffen, die sich nicht schon immer fürs Theater begeistert haben.

Bergemann: Wir haben zum Beispiel die Wartburg ins Theater geholt: eine stadtbekannte alte DDR-Kneipe, die die Wende zwar ziemlich gut überlebt und auch lange überdauert hat, aber irgendwann eben doch schließen musste, weil ihr Wirt Rolf – „Rolfe“ – in Rente ging. Diese Kneipe, die in Jena wirklich für viele ein Identifikationsort war, haben wir originalgetreu auf der Bühne nachgebaut, und es kamen unzählige Menschen, um einfach noch einmal in der Wartburg zu sitzen, zu essen und zu trinken. Das war tatsächlich ein ganz besonderes Publikum: Viele haben im Kontext des Stückes spontan ihre eigenen Lebensgeschichten erzählt.

Zur Struktur des Theaterhauses Jena gehört auch eine strikte Maßnahme zur Vorbeugung künstlerischer Erstarrung: Alle fünf bis sieben Jahre bestimmt die Gesellschafter-Versammlung konsequent eine neue Leitung. Sie sind gerade in Ihre letzte Spielzeit gestartet, im Sommer ist Ihre Ära am Theaterhaus Jena definitiv vorbei. Wie geht es Ihnen mit dieser Situation?

Timmers: Ich bin da total ambivalent! Einerseits denke ich, dass diese regelmäßigen Leitungswechsel absolut gut und richtig sind, damit das Publikum die Chance bekommt, immer wieder neue Ästhetiken kennenzulernen, denn es gibt ja in Jena keine künstlerische Opposition in Form eines anderen Theaterhauses. Persönlich habe ich natürlich das Gefühl, wir fangen hier gerade erst an, zumal die Pandemie uns viel von unserer eigentlich vorgesehenen Zeit geraubt hat. Aber letztlich sage ich mir: Du bist jetzt 42 und hast noch die nötige Flexibilität, also komm' damit klar, dass es hier ein Ende hat, und beweg' dich einfach mal, das ist gut für dich!

Bergemann: Für mich hat die Sache auch zwei Seiten – wobei man nicht vergessen darf, dass diese Erneuerungsnotwendigkeit natürlich auch mit Geld zu tun hat. Es geht also nicht nur darum, dass hier alle sieben Jahre Raum für Innovation geschaffen wird, sondern auch darum, dass das Theater erfahrenere Menschen schlichtweg nicht bezahlen kann und deshalb immer wieder Anfängerinnen und Anfänger holt – was wiederum zweifellos auch eine Qualität hat, keine Frage.

Geld ist ein gutes Stichwort: Die Auszeichnung beim Theaterpreis des Bundes geht ja nicht nur mit symbolischer, sondern auch mit ökonomischer Anerkennung einher. Haben Sie das Preisgeld schon verplant?

Bergemann: Wir überlegen, uns mit einer Programmreihe titels „Kollektiver Wahnsinn“ vom Theaterhaus Jena zu verabschieden, in einer Nacht der Kollektive, die das Thema zum einen noch einmal in größeren gesellschaftlichen Kontexten beleuchtet und unser Modell zum anderen vielleicht auch weiter in die Theaterlandschaft hineinträgt. Für solche künstlerischen Vorhaben sind die 100.000 Euro natürlich fantastisch, die wären aus unserem normalen Budget nicht bestreitbar.