Und dann geht der Hut rum
Von Georg Kasch
Kultur trotz(t) Krise (Folge 3): Die buehnendautenheims begeben sich mit einem Doku-Film auf die Spuren ihrer „Das große Welttheater“-Tour von West nach Ost. Den ganzen Artikel von Georg Kasch gibt es hier zum Nachlesen.
Theater ist eine flüchtige Angelegenheit. Wenig bleibt – manchmal Kritiken, Fotos, vor allem die Erinnerung. Bei einem derart außergewöhnlichen Theaterprojekt wie „Das große Welttheater“ des Ensembles buehnendautenheims ist das besonders bedauerlich. Denn hier stand nicht nur die Inszenierung des Calderón’schen Fronleichnamsspiels im Mittelpunkt. Der Weg war das Ziel: 2019 machten sich die zwei dutzend Schauspieler*innen und Musiker*innen auf, um mit ihrer Produktion quer durch Deutschland zu wandern, vom rheinland-pfälzischen Dautenheim bis nach Berlin. Tagsüber legten sie etwa 40 Kilometer zurück, abends spielten sie auf Marktplätzen, vor Kirchen und Schlössern. Ihre Bühne waren zwei aneinandergespannte Leiterwagen, gezogen von einem alten Traktor. Durchschnittsgeschwindigkeit: neun Kilometer pro Stunde.
Die buehnendautenheims sind ein ziemlich einmaliges Unterfangen. Jeden Sommer bringen sie Künstler*innen aus den Metropolen und ortsansässige Akteur*innen, Handwerker*innen und Techniker*innen zusammen, um bekanntere und unbekanntere Stücke der Weltliteratur in Theater zu verwandeln. Profis und Laien wirken hier auf Augenhöhe zusammen, um Kleists „Amphitryon“, Tschechows „Der Kirschgarten“ oder Pirandellos „Die Riesen vom Berge“ aufzuführen – an Orten, die eigens für die Inszenierungen hergerichtet werden, Scheunen, ein Weinberg, ein Zirkuswagen. „Das sind Stoffe, über die man was rauskriegt in dieser Umgebung, diesem unmittelbaren Resonanzraum“, begründet Annette Storr die Auswahl. Weil sie sich einem Publikum auf dem Land unmittelbar erschließen. Oder weil sie in die Landschaft passen.
Die Regisseurin und Theaterwissenschaftlerin leitet die buehnendautenheims seit 2008, seit 2013 gemeinsam mit der Kontrabassistin und Komponistin Clara Gervais. Von seiner Theaterscheune aus eroberte das Ensemble immer wieder neue Orte im Dorf, heute ein 500-Einwohner-Ortsteil der Stadt Alzey, der aber seinen ländlichen Charakter bewahrt hat. Storrs Anspruch: dass die Inszenierungen Leute aus der Kulturszene ebenso ansprechen wie die Menschen vor Ort. „Sie müssen auf zwei Ebenen lesbar sein.“
2017
inszenierte Storr Calderóns „Das große Welttheater“. Das barocke
Fronleichnamsspiel aus dem Jahr 1655 erzählt das menschliche Leben als
ein Theaterstück, in dem jede Rolle – der König, die Weisheit, die
Schönheit, der Reiche, der Bauer, der Arme, ein ungetauft verstorbenes
Kind – einen bestimmten Aspekt des Lebens repräsentiert. Die
Akteur*innen erhalten vom Spielleiter (also Gott), was sie für das Spiel
ihrer Rolle brauchen, um sich als Mensch zu bewähren. Unterstützt und
ermahnt werden sie durch das Gesetz der Gnade. Die Bühne als Welt hat
ein Tor für den Auftritt und ein Tor für den Abgang – dazwischen liegt
ein Leben. Wer wird gut handeln, wer das Ziel verfehlen?
„Das
Stück ist für die Bauern geschrieben“, sagt Storr: „Der Bauer und die
Armut haben die meisten Verse.“ Außerdem benutze Calderón Bilder, die
direkt an die ländliche Lebenswelt andockten. Storr inszenierte das
Fronleichnamsspiel wie zur Zeit der Entstehung auf einer mobilen Bühne,
zwei zusammengespannten Leiterwagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern.
2018 ging das – teilweise neu besetzte – Ensemble damit auf eine erste
Tour mit Kaltblüter-Pferdegespann bis ins nahe gelegene Mainz, 2019
schließlich auf die Reise quer durch Deutschland.
Das
war das Konzept: Kultur vom Land in die Stadt bringen (und nicht
umgekehrt wie sonst so oft), in 17 Stationen von Dautenheim nach Berlin,
durch sechs Bundesländer in West und Ost. Die Geschwindigkeit des alten
Traktors gab dabei den Takt vor. Die Schauspieler*innen saßen entweder
auf den Wagen oder liefen nebenher. Alle 40 Kilometer wurde ein Stopp
eingelegt, in Trebur und Frankfurt am Main ebenso wie in Ziegelroda und
Halle an der Saale. Jeden Abend spielten sie auf einem anderen
öffentlichen Platz. Danach ging der Hut herum.
So
ähnlich muss das auch vor knapp 400 Jahren ausgesehen haben, als in
Spanien Schauspieltruppen Calderóns Stücke aufführten. Damals wurden die
Karren zwar von Ochsen gezogen; auch die Kostüme dürften etwas anders
ausgesehen, die Musik etwas anders geklungen haben als die
Welttheatermusik von Clara Gervais für Streichtrio und lokale
Bläsergruppen (die allen Figuren Motive aus einer Liedersammlung der
spanischen Renaissance zuweist). Aber der Grundgedanke war ein
ähnlicher: den Menschen da draußen eine Geschichte zu bringen, an der
sie zu knabbern haben. „Die Menschen sind froh, wenn man sie ernst
nimmt!“, sagt Storr.
Bei
der Reise der buehnendautenheims kam noch etwas anderes hinzu: die
Verbindung zwischen Land und Stadt in einem Deutschland, in dem die
beiden Lebensräume zunehmend als Gegensätze wahrgenommen werden. Und
zwischen Ost und West, die sich ebenfalls immer fremder zu werden
scheinen. Wichtig waren die Begegnungen, die Gespräche, die
unmittelbaren Reaktionen auf das Gezeigte. „An einem Ort hatten wir
einen Platten“, erzählt Storr. „Da haben wir die Leute der ehemaligen
LPG kennengelernt, die uns geholfen haben. Für die zwei Familien haben
wir anschließend Szenen aus dem Stück gespielt.“ Manchmal hat nach den
Vorstellungen die örtliche Freiwillige Feuerwehr den Grill
angeschmissen; oft spielten lokale Blasmusikorchester mit.
Nach
den Aufführungen begannen die Menschen zu erzählen. „Weil das Stück sie
berührt hat“, sagt Storr. Dann ging es auch um die sich wandelnde
Landwirtschaft, um riesige Maisfelder, die nur noch für Biogas wachsen
und Großinvestoren gehören. Um zerstörte Genossenschaften, bröckelnden
Zusammenhalt. Die Sehnsucht nach intakten, Sinn stiftenden Strukturen.
Wie
viel die Theaterleute auf ihrem Weg gelernt und erfahren haben, davon
will auch der Film erzählen, der jetzt dank der #TakeAction-Förderung
aus den 150 Stunden Filmmaterial entsteht, das damals gedreht wurde.
Insgesamt nur wenige Minuten davon hatten es damals zu einem
impressionistischen Videotagebuch auf Youtube gebracht. Jetzt schneiden
Johannes Karl, der den Landmann spielte, und Dominik Hallerbach, der die
Reise als Filmer begleitet hat und einmal als König einspringen musste,
die Dateien zu einem etwa 75-minütigen Dokumentarfilm. Gemeinsam haben
sie vier Wochen lang das Material gesichtet. „Hauptperson ist der Tross
selbst“, sagt Karl über den Film, „die historische Wanderbühne“. Ziel
ist es, das Erlebnis der Reise und die Stationen nachvollziehbar zu
machen, Beteiligte wie Passant*innen zu Wort kommen zu lassen. „Wir
wollen ein Deutschlandpanorama 2019 zeigen“, so Karl. Das
Theatererlebnis selbst soll eher im Hintergrund eine Rolle spielen.
Und dann? Geht es erneut auf Tour. Diesmal mit einem alten Feuerwehrauto, das mit einer Leinwand zum mobilen Kino umfunktioniert wird. Wieder wird der Weg von Dautenheim, wo der Film am 14. August 2021 Premiere feiern wird, nach Berlin führen. Wieder soll es Begegnungen, Gespräche, Diskussionen geben. Und natürlich die Chance, einen Eindruck zu bekommen von einem einmaligen Theaterprojekt, dessen Flüchtigkeit jetzt in Filmbilder übertragen wird. Und, wer weiß, vielleicht Nachahmer*innen findet.
In der Reihe „Kunst trotz(t) Krise“ blicken die Kulturjournalist*innen Elena Philipp und Georg Kasch im Auftrag des Fonds Darstellende Künste einen Blick hinter die Kulissen geförderter Projekte. Wie wirkt die #TakeThat-Förderung des Fonds im Rahmen des NEUSTART KULTUR-Programms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien?