Unterm Sternenhimmel
Von Georg Kasch
Emmilou Roessling erforscht die Kopernikanische Wende und speist damit ihre spartenübergreifende Kunst.
Vier Frauen sind auf der Bühne verwoben: Zwei sitzen sich gegenüber, die Beine ineinander verschränkt. Hinter ihnen schmiegen sich zwei weitere an die Rücken ihrer Mittänzerinnen an. Die einen balancieren zwischen Kinn und Mund einen Pappbecher, neigen sich behutsam weit nach hinten, um der je anderen zu trinken zu geben. Zärtlich wirkt das, konzentriert, frei. Dass sie alle in T-Shirts, weiten Hosen, gestrickten Kopftüchern stecken, verleiht der Szene zugleich etwas Lässiges. Über allem hängt still ein Mobile aus in Tourismusplakate verpackten Leinwänden, Gewirktem und Astbündeln, halb schwebende Abstraktion, halb Sternenmodell.
„Copernicus Drift“ heißt Emmilou Roesslings Arbeit, die im September 2022 in der Berliner Tanzfabrik Premiere feierte. Drei Stunden lang bewegen sich die vier Tänzerinnen unter dem Mobile, mal mit zeitlupenhaften Mikrogesten, mal in stillem Ganzkörperschütteln, die eine eigenartige Synchronizität erzeugen. Drei Stunden – das ist im Tanzkontext der Freien Szene lang. Und doch braucht es diese Zeit, um eine geradezu hypnotische Stimmung entstehen zu lassen, in der der Blick (oder gar der Griff?) Richtung Sterne gehen kann, in aller Hoffnung, aber auch aller Melancholie, die der Future Grief – die Trauer als Sehnsucht oder Erwartung dessen, was noch nicht geschehen ist – mit sich bringt.
„Copernicus Drift“ ist nur eines von mehreren Werken, das Roessling zum Sternenthema geschaffen hat. Sie ist schon allein deshalb eine Ausnahmeerscheinung, weil sie auf zwei verwandten, aber doch grundverschiedenen Kunstfeldern arbeitet: Sie hat sowohl Tanz als auch Freie Kunst studiert, choreografiert hier, schafft Performances und Installationen in der Bildenden Kunst dort – hybride Produktionen, die sich aus vielerlei Disziplinen speisen. Das ermöglicht es Roessling, Synergien zu nutzen und sowohl Themen als auch Formen in unterschiedlichen Kontexten zu erproben. Es bedeutet aber auch, krisenfester aufgestellt zu sein als andere Künstler*innen.
Wie sehr die Disziplinen einander befruchten, wird gut am Sternenthema sichtbar. Für ihre Bühnenarbeiten entwirft Roessling auch die Settings, im Fall des Kopernikus-Projekts das Mobile. Ein Thema wie die Kopernikanische Wende aber schlägt sich auch in ihren Arbeiten für Institutionen der Bildenden Kunst nieder. So entstanden 2022 für die Städelschule Frankfurt „Drifters“ und „The Planets“, 2023 „15th of September“ – bei allen stand ein Mobile im Mittelpunkt, „The Planets“ war zudem eine Durational Dance Performance.
Möglich wurde die intensive Beschäftigung mit Astrologie und der Kopernikanischen Wende dank der Rechercheförderung von #TakeHeart, die im Rahmen von NEUSTART KULTUR vom Fonds Darstellende Künste vergeben wird. Die Förderung erlaubt ein flexibles Arbeiten unabhängig von einer konkreten Präsentation, ein bezahltes Vertiefen in ein Thema, wie es durch eine Projektförderung nie abgedeckt werden könnte. „The Big Mourning of the Stars“ heißt Roesslings Rechercheprojekt, in dem sie Paradigmenwechsel in der Wissenschaft untersuchte. Was genau verändert sich? Was war nötig, um eine Veränderung herbeizuführen? Und wie gehen wir mit dem Schmerz um, der beim Abschied von alten Paradigmen entsteht?
Es ist nicht gerade alltäglich, dass ein wissenschaftshistorisches Thema wie die Kopernikanische Wende Eingang in Tanz oder Bildende Kunst findet. „Ein leicht romantisches Interesse an der Astronomie“ konstatiert Roessling sich selbst, ein Interesse an der Frage: „Wie entsteht neues Wissen?“ Allerdings überträgt sie ihre Recherchen nicht eins zu eins in ihre Werke. „Ich habe keine Lust auf Info-Kunst“, sagt sie. Übrig bleiben Spuren, Gesten, Assoziationen, die ihren Performances, Choreografien und Installationen eine Mehrschichtigkeit verleihen, ohne dass sich diese Schichten eindeutig auf ihre Ursprünge zurückführen lassen.
Von einer vertieften Recherche profitieren oft mehrere Arbeiten – so auch bei Emmilou Roessling. Wie viele Künstler*innen der Freien Szene findet sie es frustrierend, sich von Projektförderung zu Projektförderung zu hangeln. Das Gefühl, in jedem Antrag das Rad neu erfinden zu müssen, führt oft zu künstlerischer Kurzatmigkeit – oder Trendthemen, die alle gleichzeitig bearbeiten. Und damit letztlich zu Uniformität.
Tiefe aber erreicht man nur, wenn man sich intensiv mit etwas auseinandersetzt – und sei es mit einer Geste. „In der Bildenden Kunst kann man sagen: Ich beschäftige mich jetzt erst mal mit einem bestimmten Material“, sagt Roessling. Diese Freiheit habe man in den Darstellenden Künsten zu selten. Dabei ist gerade der Tanz ein eigenständiges Medium, das keine Botschaft vermittelt, sondern dessen Formen man entwickeln muss. „Tanz ist eine Formsprache und darin der Bildenden Kunst sehr nah.“ Ihre Erforschung benötigt Zeit.
Wohin aber mit all den Ergebnissen, Überlegungen, Texten, die während der Recherche entstanden sind? Gemeinsam mit Lucas Eigel, der sowohl Literaturwissenschaften als auch Mathematik studiert hat, schrieb Roessling ein Libretto, das – als Text – keinen Eingang ins Werk gefunden hat. Auch nach der Premiere haben die beiden weitergeschrieben und daraus eine Mini-Publikation gemacht: 13 kleine Heftchen mit je einem Dialog, der an die alte literarische Form des Kunstgesprächs anknüpft. Eine Reihenfolge der Heftchen gibt es nicht, man kann sie während oder nach der Vorstellung lesen. Und doch tragen sie dazu bei, den Denk- und Kunstraum einer Performance zu weiten, Tanz, Kunst, Text in ihren Einzelteilen zwar bestehen zu lassen, aber doch einen erweiterten Resonanzrahmen zu schaffen.
Dieses spartenübergreifende Arbeiten soll weitergehen, auch die Kollaboration mit Lucas Eigel. Gerade denken beide über die Abenddämmerung nach. Eine Anthologie soll entstehen, auch eine Performance, draußen, im Park. „Theaterräume haben viele Barrieren“, sagt Roessling. Ein Park aber ist ein Kontingenzraum – man weiß nie, was passiert. „Bestenfalls kommen Menschen mit Kunst in Berührung, die nie in ein Theater gehen würden“, sagt Roessling. Und in wolkenfreien Nächten spielen auch die Sterne wieder eine Rolle.
Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.