User? Experience! – Postdigitale Experimente in der Postpandemie

Von Yasmine Salimi

Wie sich die postdigitalen Sinne in Performance-Räumen schärfen lassen, erfährt unsere Autorin Yasmine Salimi im Gespräch mit den Initiator*innen von Labs, in denen es um Augmented Realities und Werbung auf TikTok geht.

Seitdem die physische Begegnung wieder möglich ist, hat das digitale Theater es schwer. Dabei ist die binäre Trennung zwischen dem Analogen und Digitalen in einer postdigitalen Gesellschaft längst obsolet, da sich beide Bereiche bereits ständig durchdringen. Anstatt das Schicksal des Digitaltheaters zu beklagen, ließe sich also vielmehr danach fragen, was wir von digitalen Interaktionsweisen über den Umgang mit Publika lernen können. Oder was es braucht, um performative, auf Mitwirkung ausgerichtete Prozesse auf der Höhe der postdigitalen Gesellschaft zu verwirklichen – abgesehen von prozess- und rechercheorientierten Förderungen, die aktuell im Schwinden begriffen sind.

Mit solchen und ähnlichen Fragestellungen beschäftigten sich drei der im Sommer 2023 vom Fonds Darstellende Künste ermöglichten Artist Labs zwischen performativen und digitalen Prozessen. Ihnen ist eine Bedarfsorientiertheit gemeinsam, die sich auf unterschiedliche Publika bezieht. Auf die People Formally Known As The Audience (Jay Rosen), für die sich in der Freien Szene neue Begriffe herausgebildet haben – User*innen, Nutzer*innen, Kompliz*innen, Mitspielende.

Einem als Mitspielende und Testspielende verstandenen Publikum galt das Interesse des Artist Labs „Shifting Communities“. Das Ziel war, 17 überregionale Künstler*innen an der Schnittstelle von performativen und digitalen Künsten stärker zu vernetzen und zum Austausch über partizipative Produktionsweisen einzuladen. Die freie Dramaturgin, Kuratorin und Mitinitiatorin des Artist Labs Susanne Schuster sieht eine Diskrepanz zwischen bestehenden Theaterstrukturen und den Anforderungen eines stärker am Gamingorientierten Performancebegriffs, wo das Publikum nicht erst bei der Premiere dabei ist, sondern schon im Vorfeld – etwa um eine Software oder das Game Design auszuprobieren und Rückmeldungen zu ihrer User Experience zu geben. „Eine Erkenntnis war, dass wir am liebsten die Premieren abschaffen würden, um einen Produktionsprozess zu entwickeln, wo Publikum kontinuierlich dabei sein kann“, so Susanne Schuster. Mit dem Artist Labs wurde die Kompliz*innenschaft vertieft und erweitert, die bereits im Rahmen der Reihe BREAKDOWN ihrer Gruppe OutOfTheBox etabliert wurde.

Eine Personengruppe blickt im öffentlichen Raum auf beschriftetes Papier, welches auf dem Boden liegt. © Anna-Kristina Bauer

Beim Artist Lab „Bits and Bytes“, das zum Redaktionsschluss gerade angelaufen ist, ist der Begriff des Publikums denkbar weit gedacht und meint im Grunde die Stadtgesellschaft. Das PopUp-Labor lädt als Leerstandsbespielung in der Lüneburger Innenstadt interessierte Bürger*innen dazu ein, an Stationen rund um Virtual Reality, Augmented Reality, Künstliche Intelligenz, Sicherheit im Netz, Coding und Gaming die eigene digitale Fitness zu trainieren – und sich dabei bestenfalls als lernende Community zu erfahren. „Das Spannende ist: Die Leute werden im ersten Moment gar nicht begreifen, dass sie Publikum sind, sondern sie gehen erstmal in einen Laden rein, wo sie kostenlos an Kunst herangeführt werden“, erzählt Marion Kleine-Onnebrink, die das Artist Lab als Freiraumplanerin, Szenografin und Stadtmacherin mitgestaltet.

Entstanden ist die Idee, als Theaterregisseurin und Game Designerin Laura Tontsch nach Lüneburg zurückkam, wo sie Abitur gemacht hat. Sie hatte sich gefragt: „Was kann ich dieser Stadt geben, was braucht die Stadt? Es gibt viel Leerstand, was kann man da machen?“ Als Narrative Designerin für Virtual und Augmented Reality wollte sie einen Ort schaffen, an dem auf spielerische Weise Berührungsängste gegenüber digitalen Technologien abgebaut werden. Nebenbei, so ihr Gedanke, könnten dadurch auch neue Zugänge zu künstlerischen Formaten geschaffen werden, die mit diesen Technologien arbeiten. Im besten Fall ließe sich dabei voneinander lernen, etwa wenn der Hamburger Retro-Spiele-Club einen Commodore 64 mitbringt und so die Videospiel-Expertise älterer Generationen auf den Plan ruft.

Eine Person sitzt in einem weißen kahlen Raum auf einem Stuhl, spielt auf einer Konsole und schaut auf einen Bildschirm. © Joshua Delissen

Das Artist Lab „Auswege aus patriarchaler Männlichkeit - eine Zielgruppenforschung” interessiert sich hingegen für ein Publikum im Sinne der Teilöffentlichkeiten von sozialen Medien wie TikTok und Instagram. Anders als im Stadttheater funktioniere es dort erfahrungsgemäß nicht, „alle“ anzusprechen, so Caspar Weimann, postdigitaler Theatermacher* und Prof für Schauspiel, der* das Artist Lab initiiert hat und darüber hinaus andere Artist Labs mentorierend zum Thema Digitalität begleitet. Das Labor ist als mehrstufiger Prozess unter Expert*innen für Männlichkeitskritik und für die Analyse rechter Radikalisierung angelegt.

Ziel ist die Grundlagenforschung zum Potenzial von Werbung auf Instagram und TikTok, um toxischen Männlichkeitsdiskursen alternative Bilder und Erzählungen von Männlichkeit entgegenzusetzen. Caspar Weimanns Kollektiv onlinetheater.live hat mit „Loulu“ bereits eine App konzipiert, die antifeministische Strategien im Internet erkennbar macht und mittlerweile auch im Unterricht eingesetzt wird. Zudem soll nun interventionistisch in die Dynamiken eingegriffen werden, mit denen Akteur*innen wie die „Hustlers University“ in sozialen Medien junge Männer in Gewalt- und Einsamkeitsspiralen verwickeln und für rechtsextreme Diskurse empfänglich machen. Eine zentrale Herausforderung sei das Überwinden der eigenen Filterblase, das „Bubble Bursting“: „Andere Leute in anderen Blasen zu erreichen und da interventionistisch zu arbeiten ist fast nicht möglich, außer durch das sehr attraktive Tool Werbung – verstanden als bezahlte Reichweite auf Social Media“, so Weimann. „Uns interessiert, wie sich genauer angeben lässt, welche Leute, die welche Hashtags oder welche Contents mögen, man erreichen kann.“ Im Laufe des Artist Labs werden verschiedene Prototypen für mögliche künstlerische Interventionen entwickelt.

In allen drei Labs sind die Strategien sehr designorientiert: Prototyping, Game Design, Play Tests, Design Thinking und User Experience Design gegen das Patriarchat, für Community Building und spielerisches Lernen. Abgesehen davon, dass hier Prozesse und Veränderungen angestoßen und die Grenzen zwischen Räumen und Öffentlichkeiten im Analogen und Digitalen aufgebrochen werden, legen die Beteiligten Wert auf verschiedene Aspekte des Theatralen. Für Laura Tontsch ist das Element der Narration in Theater und Games besonders relevant, Marion Kleine-Onnebrink interessiert sich für den Aspekt der Immersion. Und Susanne Schuster hebt hervor, dass das Teilen von Kenntnissen im Modus von „Open Source“ nicht mit dem zu verwechseln ist, was daraus entsteht: Der künstlerische Ausdruck bleibt subjektiv und einzigartig. Caspar Weimann betont den Faktor der Kuration des Selbst als Figur: „Das größte Theater unserer Wirklichkeit ist eigentlich das soziale Internet, was unsere Gesellschaft komplett gestaltet, wo Leute Figuren spielen.“

In den unterschiedlichen Formaten, die an diese digitalen Realitäten anknüpfen, geht es letztlich nicht nur darum, den Bedarfen von User*innen gerecht zu werden. Sondern es geht auch darum, eine Experience, eine besondere Erfahrung zu ermöglichen, die unsere postdigitalen Sinne schärft.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Yasmine Salimi macht Dramaturgie und Übersetzungen, forscht, schreibt, kuratiert und hat dabei immer irgendwie mit Theater zu tun. Sie ist Teil des Berliner Figurentheaterkollektivs Manufaktor, arbeitet für das internationale Festival für zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater Theater der Dinge an der Schaubude Berlin und übersetzt Theaterstücke aus dem Französischen ins Deutsche.