Wir sammeln und erzählen ständig Geschichten

Von Sebastian Köthe

Die Theatermacherin und Aktivistin France-Elena Damian hat zusammen mit der Kuratorin Anna Sarre und der Journalistin Anna Anacker in Berlin das Labor „Schmerz verstehen“ veranstaltet. Hier haben sich Künstler*innen über zwei Wochen getroffen, um ihre schmerzhaften Erfahrungen mit Konflikten und Kriegen sowie die Gegenwart des Theaters zu diskutieren. Ein Beitrag von Sebastian Köthe.

LABOR – Schmerz verstehen

Sebastian Köthe: Wie bist du Teil der Freien Szene geworden und was machst du dort?

France-Elena Damian: Ich habe an der HFS „Ernst Busch“ Regie studiert und danach an staatlichen Theatern gearbeitet, aber sofort auch in der Freien Szene als Regisseurin. Als Regisseurin ist man oft eine Einzelkämpferin. Man hat seine Projekte, arbeitet mit Gruppen – aber so einen richtigen Austausch mit Kolleg*innen gibt es selten. 2018 habe ich mit einigen Kolleg*innen das tak – Theater Aufbau Kreuzberg neugegründet. Dabei sind wir eine kollektiv-kollegiale Leitung von sieben Theatermacher*innen. Als Kollektiv ein Theater zu führen, bereichert mein Leben.

Du machst auch politische Arbeit.

Ich habe mit vielen Regisseurinnen zusammen Pro Quote Bühne mitgegründet. Als Theatermacherinnen sind wir im Theaterbetrieb unterrepräsentiert, im Vergleich mit unseren männlichen Kollegen. Anfangs war es nur eine gefühlte Realität. Aber wenn ich ehemalige Kommilitoninnen wiedergetroffen habe, haben wir gemerkt: immer noch kleine Bühne, kleine Gage, experimentelle Formate, Kindertheater – warum? Wir haben die gleiche Ausbildung abgeschlossen und während unsere männlichen Kollegen schon beim Theatertreffen eingeladen wurden oder Häuser leiten, kämpfen wir darum überhaupt in unserem Beruf arbeiten zu dürfen.

Anhand der Studie „Frauen in Kultur und Medien“ haben wir realisiert: Es ist kein gefühltes Problem, sondern ein strukturelles. Seitdem engagieren wir uns dafür, Frauen und mehr Diversität in die Theater zu bringen. Wir wollen flachere Hierarchien und Gagengerechtigkeit. So bin ich jetzt in mehreren Kollektiven: bei Pro Quote Bühne, beim tak und natürlich als Regisseurin. Das ist eine Herausforderung, die großen Spaß macht, aber auch viel Zeit kostet, denn die Leitung des tak und die Arbeit bei PQB sind größtenteils ehrenamtliche Tätigkeiten. Nur durch meine Arbeit als Regisseurin verdiene ich meinen Lebensunterhalt.

Die Artist Labs sind eine ungewöhnliche Förderschiene. Wie hast Du die Ausschreibung vom Fonds wahrgenommen?

Da muss ich etwas ausholen. Meine Familie ist teilweise deutschstämmig aus Rumänien, wir sind Siebenbürgen-Sachsen. Mein Papa ist Rumäne aus der Walachei. Das ist so ein Mix. Wir sind vor 32 Jahren nach Deutschland geflohen. Als der Krieg in der Ukraine losging – hat mich das sehr bewegt. Ich war wahnsinnig traurig. Ich hatte Fluchtgedanken. Ich habe in der Walachei ein Haus von meinen Großeltern geerbt. Das ist ein Ort, wo ich Kraft tanke und in den Ferien hingehe. Mein erster Gedanke war: Ich muss nach Rumänien, ich muss da Tomaten, Kartoffeln und Gurken anpflanzen, wenn dieser Krieg weiter um sich greift. Und dann dachte ich: Ich weiß ja gar nicht, wie das geht! Und in meinem Bücherregal ist nur Theaterliteratur!

Dann habe ich die Kuratorin Anna Sarre kontaktiert. Sie war in Berlin und half Geflüchteten aus Russland und der Ukraine. Anna hat noch die Journalistin Anna Anacker eingeladen. Wir überlegten, ob wir russische und ukrainische Künstler*innen ans tak anbinden konnten. In der Zeit kam die Ausschreibung vom Fonds mit dem Artist Lab und ich wusste: Das ist eine wunderbare Gelegenheit mit internationalen Künstler*innen einen Diskurs zu starten, über die aktuelle Situation, ihre Flucht, die Pandemie-Zeit und ihre Visionen für das Theater der Zukunft.

Eine Holzterrasse im Grünen. Darauf stehen acht Menschen in einem losen Halbkreis, zwei weitere auf einer Treppe. Die meisten schauen lächelnd in die Kamera. © Mona Glaß

vlnr: Miсhail Durnenkov, Philipp Grigorian, Anna Homann, Nicole Oder, Anna Annacker, Ilya Kipprenko, Peca Stefan, France-Elena Damian, Eva Jankowski, Sulafa Hijazi.

Ihr habt das Labor „Schmerz verstehen“ genannt. Wie seid ihr auf den Titel gekommen? Hat er Euch durch das Lab getragen?

Das lag den russischen und ukrainischen Künstler*innen auf der Seele. Ich war am Anfang skeptisch, weil ich dachte: Wenn man mitten in der Situation ist, wie diese Künstler*innen, alle Eindrücke sind frisch – kann man dann überhaupt schon darüber reden, schreiben, produzieren oder geht das erst viel später? Ich habe ihnen vertraut und wir haben es dann so gemacht.

Wer hat an dem Lab teilgenommen?

Wir hatten vier Teilnehmer*innen aus Russland, zwei aus Deutschland und jeweils eine Person aus Syrien, der Ukraine und Rumänien. Sie sind aus den Feldern Regie, Choreographie, Dramatik, Dokumentarfilm, Aktivismus und interdisziplinäre Kunst. Obwohl der Konflikt in der Ukraine noch frisch ist, hatten wir durch die syrische Teilnehmerin, Sulafa Hijazi, eine Person dabei, die das Ganze mit Abstand betrachten konnte. Das war wichtig: Nicht nur das Jetzt zu betrachten, sondern zu wissen, dass es Konflikte auf der ganzen Welt gibt, mit denen wir umzugehen haben.

War es schwer Brücken zueinander zu bauen?

Brücken zu bauen war gar nicht nötig. Schon in der Vorstellungsrunde kamen so viele Aspekte hoch! Die russischen Teilnehmer*innen haben sich bei der ukrainischen Künstlerin entschuldigt, dass der Krieg nicht in ihrem Namen passiert und sie sich für ihre Nation schämen.

Auch die Geschichten, wie sie Russland verlassen haben, waren sehr berührend. Viele haben lange geglaubt, dass das System in sich zusammenbrechen und es einen Wandel geben würde. Als der Ukrainekrieg losging, wussten sie – it will not happen. Eine russische Teilnehmerin, Anna Abalichina hat mit Tränen in den Augen erzählt, wie sie geflohen ist, um ihrer Tochter das Aufwachsen in einem freien Land zu ermöglichen und nicht glaubt, jemals nach Russland zurückzukönnen. Oder Philipp Grigorian, der von einer schlimmen Vorahnung sprach, die seit 2005 all seine Arbeiten als Regisseur prägt. Das waren die Geschichten, die wir schon am ersten Tag austauschten.

Wie habt ihr dann miteinander gearbeitet?

Wir haben uns täglich getroffen und sind abends ins Theater gegangen. Wir haben über die Stücke gesprochen, die Pandemie und die aktuelle Situation. Wie sind sie durch die Zeit gekommen? Gab es Unterstützung vom Staat? Wie war ihr künstlerisches Leben?

Als sie ihre Arbeiten vorstellten, waren wir alle baff, wie viele großartige Projekte da an den Tag gekommen sind. Am nächsten Tag habe ich sie nach ihren Schmerzpunkten gefragt. Wo sind sie an ihre Grenzen gekommen? Wer hat sie dann unterstützt, wie sind sie darüber hinweggekommen? Durch diese Themen kamen wir uns schnell nah. Wir waren alle Theatermacher*innen im gleichen Boot. Freie Szene ist auch ein Kampf ums Überleben – das hat uns alle vereint.

Habt ihr Gäste ins Labor eingeladen?

Ja. Wir hatten den Historiker Alexander Kliymuk, der mit uns über die Aufarbeitung der Naziverbrechen gesprochen hat und wie lange das auch in den Künsten gedauert hat! Das ist für die aktuelle Situation interessant zu sehen. Ein Teilnehmer hat gesagt: „Solange die Waffen reden, schweigen die Musen.“

Eine geflüchtete Frau aus der Ukraine, die in verschiedenen Flüchtlingslagern war, war unsere zweite Expertin. Sie hat uns wirkliche Geschichten erzählt – aus Mariupol, von einer 80-jährigen Frau, die zu Fuß allein geflohen ist. Wir hatten auch die ukrainische Psychologin Maria Khrapatcheva zu Gast, die über Trauma gesprochen hat. Darüber wie man es erkennen und vermeiden kann, wie wichtig es ist, nicht alles in sich hineinzufressen und über das Erlebte zu sprechen. Das war ein Input, der uns zum Thema „Schmerz verstehen“ sehr geholfen hat.

Fünf Personen sitzen auf Stühlen in einer Reihe an einer Wand. Hinter ihnen hängt ein Bild. Man sieht sie schräg von der Seite, sie schauen verträumt und reden nicht. © Aleksandra Kononchenko

In Eurem Antrag bin ich auf den Begriff „konstruktiver Journalismus“ gestoßen. Ich habe den Eindruck, dass man Kunst oft mit Kritik, Dekonstruktion oder Widerstand verbindet. Viele gegenwärtige Künstler*innen interessieren sich jedoch auch für Fragen des Reparierens, Heilens oder Bejahens. Hat das für Euch eine Rolle gespielt?

Auf jeden Fall! Als Künstler*innen gestalten wir. Das ist ein kreativer Prozess, der nach vorne gerichtet ist. Auch bei Pro Quote Bühne geht es darum, nicht immer nur zu kritisieren und das Theater nur als Spiegel der Gesellschaft zu nutzen. Es geht auch darum, Alternativen aufzuzeigen.

Ich habe auf einem Theaterfestival in Rumänien eine Inszenierung des rumänisch-deutschen Theaters aus Sibiu gesehen. Dort ging es um eine Geschichte, in der eine Enkelin aus Versehen das Haus ihrer Oma angezündet hat und dann von dieser gezwungen wird, den Verlust als Prostituierte abzuarbeiten. In der Inszenierung gab es eine Stunde lang nur Vergewaltigungen. Da habe ich mir gedacht: Das ist eine Reproduktion! Wenn ich es sehe, erlebe ich es auch. Und alle anderen erleben es auch. Und es vermittelt das Gefühl, dass Frauen auf diese Art unterdrückt und misshandelt werden können. Ich will das nicht mehr sehen, dass Frauen so behandelt werden – auch nicht in Theatern. Auch wenn es noch Realität ist. Ich möchte andere Bilder sehen – Vorbilder, alternative Modelle des Lebens und des Miteinanders.

Hat der Begriff der künstlerischen Forschung für Euch eine Rolle gespielt?

Ich würde mich auf jeden Fall als eine künstlerisch Forschende beschreiben. Dazu gehört für mich die Neugier auf Menschen, ihre Geschichten und Lebensläufe. Für mich war es interessant, die Perspektiven, Formen, Fragen und Themen der Kolleg*innen kennenzulernen. Die Teilnehmer*innen haben eine ebensolche Neugier mitgebracht.

Was würdest Du dir für die Zukunft der Freien Szene wünschen?

Im tak leiten wir als Künstler*innenkollektiv das Theater größtenteils ehrenamtlich, daher wünsche ich mir eine Strukturfinanzierung für die Theater der Freien Szene und für uns als Künstler*innen eine Art Basisförderung. Wir sind ständig am Arbeiten. Man muss dafür nicht am Schreibtisch sitzen. Es passiert nachts, tagsüber, man findet auf der Straße Geschichten. Ich höre jeden Abend wie eine Frau mit einem Einkaufswagen voller Flaschen durch meine Straße läuft. Ich bin sofort interessiert: Wer ist sie, woher kommt sie, spricht sie deutsch, was bewegt sie? Da geht sofort eine Neugierde los und die Lust, das zu erforschen und ein Projekt zu machen. Wir sammeln und erzählen ständig Geschichten.

Im Sommer haben freie Künstler*innen-Gruppen in 30 bundesweiten Artist Labs die krisenhafte Gegenwart untersucht. Sebastian Köthe, Elisabeth Wellershaus und ein Team an Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.