„Wir wollen etwas machen, was nicht möglich ist“

Von Georg Kasch

Mit „Die Versammlung“ verbinden Herbordt/Mohren in Stuttgart einmal mehr Kunst und Leben und führen Menschen zusammen: Wie wollen wir leben? - Georg Kasch über die #TakeHeart-geförderte Arbeit.

Ist das noch Kunst oder schon Aktivismus? In „Die Versammlung“ kommen Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammen. Stuttgarter Publikum, Künstler*innen, Aktivist*innen diskutieren in 90 Minuten in Gruppen wie im Plenum anhand von konkreten Aufgaben die großen Fragen: Wie wollen wir leben? Was können wir ändern? Wie lässt sich das auf die Beine stellen?

Wer sich ein wenig mit dem Werk von Herbordt/Mohren (das sind Melanie Mohren und Bernhard Herbordt) auskennt, ahnt natürlich sofort, dass „Die Versammlung“ eines ihrer Projekte sein muss. Seit 2010 schreiten sie mit so gewichtigen Titeln wie „Die Aufführung“, „Die Probe“, „Das Stück“, „Der Monolog“ und „Die Gesellschaft“ die Bestandteile des Theaters und seiner Bezüge zu den Menschen ab, befragen sie, vermessen sie, fordern sie heraus. Und verändern damit nicht nur den Blick auf die performativen Künste, sondern bestenfalls auch die Welt.

Ein gutes Beispiel für dieses Ausgreifen der Kunst ins Reale ist „Das Theater“. Zwischen 2015 und 2018 luden Herbordt/Mohren jeden zweiten Sonntag zur Landpartie nach Michelbach an der Lücke ein, einem kleinen, längst eingemeindeten Dorf im Ostschwäbischen. Hier hatten sie mit Menschen vor Ort und Künstler*innen von außen rund um den zentralen Dorfplatz einen Parcours aus Theaterinstallationen geschaffen, mit dem leerstehende Räume bespielt wurden – als Archiv, Gästehaus, Kino, Museum und Theater. „Es gab da eine Initiative, die den Dorfplatz umgestalten wollte, die sich aber an der Politik und der Finanzierung die Zähne ausgebissen hatte“, erzählt Bernhard Herbordt. „Jetzt konnten wir einen Prozess anstoßen.“ Mittlerweile ist der Platz fertig und hat den Ort verändert.

Eine Gruppe von Menschen sitzt in "Die Versammlung" von Herbordt/Mohren auf dem schwarzen Bühnenboden zusammen und diskutiert. © Dominique Brewing

"Die Versammlung" von Herbordt/Mohren

In diese Art von grenzsprengendem, transformativem Theater fügt sich auch „Die Versammlung“ ein. Los geht es bereits im Foyer des kooperierenden Theater Rampe in Stuttgart, wo Gastgeber*innen sich den von ihnen begleiteten Publikumsgruppen vorstellen (und das sehr inklusiv, mit Pronomen und einer Selbstbeschreibung), ihnen die Rahmenbedingungen erklären und sie mit in den Saal nehmen. Drinnen ist die Bühnenfläche voller Markierungen; an den Seiten stehen Tische, auf denen Scores liegen, Handlungsvorschläge, wie sie schon Allan Kaprow schrieb, Pate aller Performancekunst. Da steht zum Beispiel: „Nimm Dir ein wenig Zeit und stelle Dir vor, was das Ziel dieser Versammlung hier sein könnte.“ Oder: „Bewege Dich durch den Raum. Bleibe, wo Dich etwas interessiert. Lies, beobachte oder höre, was es ist.“ Oder: „Gehe zu einer Person, die Du nicht kennst, und fragt Euch, ob Ihr gemeinsam ein Opernhaus besetzen würdet.“

Es gibt eine Reihe von Themen, die von den Gastgeber*innen als kleine Vorträge ins jeweilige Rund gegeben und die von den Scores vertieft werden, zum Beispiel einen Versammlungsort für Kinder zu entwerfen. Oder sich zu fragen, was wäre, wenn wir Steine als Akteur*innen anerkennen würden? Das Gute an den Scores: Bestenfalls setzen sie einen Denk- und Gesprächsprozess oder eine Handlung in Gang. Es muss aber auch nichts passieren. Als Teilnehmende*r hat man immer auch die Wahl, einfach nur zu beobachten.

Es kommt vor, dass Beteiligte eigene Scores schreiben und neue Ziele definieren. Vielleicht interessieren sich an einem Abend die Leute gar nicht dafür, ob ein Opernhaus als Gemeingut entworfen werden kann, sondern eher dafür, wie bezahlbares Wohnen möglich ist. Das Ziel wird jedes Mal neu verhandelt.

Doch bei allen Denk- und Diskutieraufgaben geht es immer auch darum, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. In den Gruppen singt man zusammen (plötzlich stimmt das Live-Cello auf wundersame Weise ein), schweigt man zusammen; Kinder bauen um einen Tisch herum gemeinsam Höhlen. Am Ende schieben alle ihre Tische zusammen und die Gastgeber*innen weiten den Blick auf die übrigen Themen und Diskussionen, schlagen vor, sich eine Menschenkette vorzustellen zwischen Stuttgart und Neu-Ulm (wie einst auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung 1983): Wie würde die aussehen? Wie nah wären sich die Menschen? Wer müsste dabei sein?

Eine Gruppe von Menschen, verteilt im Raum und zum Teil im Gespräch mtieinander bei "Die Versammlung" von Herbordt/Mohren. © Dominique Brewing

"Die Versammlung" von Herbordt/Mohren

Die Tische, Materialien und Scores in „Die Versammlung“ verweisen übrigens auch auf Herbordt/Mohrens Schaudepot, ihr vermutlich umfangreichstes Werk, eine einzigartige Mischung aus Büro, Archiv und Aufführungsort. Es befindet sich seit 2021 am Rand des Stuttgarter Zentrums in einem Wohnkomplex. Für die eher kleinen Räume einer einstigen Fliesenlegerwerkstatt haben Leonie Mohr und Hannes Hartmann Regale, Kisten und Tische entworfen, an denen man sich vergangene Performances vergegenwärtigen und sie wieder lebendig werden lassen kann.

Der Gedanke dahinter: Die Stadt- und Staatstheater haben ein Repertoire und damit ein lebendiges Archiv. In der Freien Szene sind Inszenierungen, Performances, Choreografien nach ein, vielleicht zwei Dutzend Vorstellungen verschwunden (sehr oft noch schneller; Ausnahmen bestätigen die Regel). „Nachdem sie einmal abgespielt sind, sind viele auch beim besten Willen nicht wieder aufführbar“, sagt Herbordt. „Wir wollen etwas machen, was nicht möglich ist.“ Kein Archiv nämlich, sondern einen lebendigen Ort schaffen, an dem man in Kleingruppen oder Eins-zu-Eins-Begegnungen Performances dank Scores und anderer Materialien wiederbeleben und in neue Aufführungen überführen kann.

So wird das Schaudepot zum Denk-, Begegnungs-, Aufführungsort. Dafür wurden Herbort/Mohren 2022 als Genrespringer mit dem FAUST-Preis ausgezeichnet. Die Jury-Begründung lobt, dass das Schaudepot „ein Baukasten, ein Prinzip, eine Aufforderung, ein Gedanke“ ist, „der hinausgetragen wird auf die Dörfer und ins World Wide Web, der sich anwenden lässt und wie nebenbei die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Theaters stellt“. Außerdem ist das Schaudepot die Keimzelle aller weiteren Herbordt/Mohren-Projekte.

Wie „Die Versammlung“. Gerade weil sie aus vielen verschiedenen Formaten und Terminen besteht, mit Reflexionsebenen und kleineren Formaten zwischen den eigentlichen Aufführungen, selbst also mit einer Repertoire-Veranstaltung vergleichbar ist, kamen die meisten kurzfristigen Förderungen dafür nicht infrage. Ideal war hier die Prozessförderung von #TakeHeart, die im Rahmen von NEUSTART KULTUR vom Fonds Darstellende Künste vergeben wird und hier die gesamte Spielzeit abdeckt. So wird es am 24. März eine weitere Vorstellung im Theater Rampe und am 8. Juni eine große Abschlussveranstaltung geben. Vermutlich werden auch dann wieder Ideen bleiben, die das Zeug dazu haben, die Welt zu verändern.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.