„Wir wollen keine Fachleute werden“

Von Christine Wahl

Das künstlerische Duo Hannah Hofmann und Sven Lindholm entwickelt seit über 20 Jahren Formate an der Schnittstelle zwischen performativer, visueller und akustischer Kunst. Die Kulturjournalistin Christine Wahl im Gespräch mit den Preisträger*innen des Tabori Preises 2023.

Frau Hofmann, Herr Lindholm, Sie lassen in Ihren Produktionen wahlweise ein Opelwerk verschwinden oder das Publikum, erwecken tote Briefkästen zu neuem Leben oder organisieren Abende, an denen sich Menschen – einvernehmlich – in anderer Menschen Wohnungen verstecken. Wie kommen Sie eigentlich auf Ihre originellen Ideen?

Hannah Hofmann: Das ist auch für uns selbst nicht immer nachvollziehbar. Am Anfang steht meistens die Frage, in welcher gesellschaftlichen Situation wir uns gerade befinden, woraus wir ableiten, welches Thema wir für relevant erachten. Und dann versuchen wir, in Auseinandersetzung mit diesem Thema eine Art szenische Gebrauchsanweisung zu entwickeln.

Sven Lindholm: Entscheidend ist, dass der Ausgangspunkt unserer Überlegungen nicht aus einer Idee davon besteht, was wir mit unserer Arbeit aussagen wollen, sondern dass wir vielmehr formale Ansätze entwickeln, die eigentlich erst im zweiten Schritt so etwas wie Inhalte produzieren, und zwar möglichst viele unterschiedliche. Eigentlich trägt jeder Mensch, der sich in unsere Settings begibt, seinen eigenen Inhalt mit hinein.

Betrachten wir es doch einmal ganz konkret: Welche Gedanken waren es zum Beispiel, die am Beginn Ihrer jüngsten Produktion Notes from Germany standen – und welche „szenische Gebrauchsanweisung“ haben Sie dann dafür gefunden?

Lindholm: Notes from Germany ist eine Arbeit, die wir Anfang dieses Jahres mit Unterstützung des Goethe-Instituts in Argentinien realisieren konnten. Angesichts der sehr hohen Inflation vor Ort hatten wir das Gefühl, wir müssten eigentlich über Geld reden. Das ist zwar einerseits ein Thema, das die Menschen dort jeden Tag besprechen, andererseits wurde uns aber auch signalisiert, dass sie das natürlich nicht unbedingt gern tun, zumal in der Öffentlichkeit. Also haben wir überlegt, wie ein Szenario aussehen könnte, das es möglich macht, Geld in den Mittelpunkt zu rücken. Und so kamen wir auf die Idee, den Spieß einmal umzudrehen und unser Publikum zu engagieren, damit es unser Honorar ausgibt.

Hofmann: Uns ging es darum, statt Menschen Geld zu inszenieren beziehungsweise die vielfältigen Verhältnisse, die es stiftet: Besucher*innen des FIBA-Festivals in Buenos Aires konnten sich einzeln anmelden, an dem Projekt teilzunehmen. Sie erhielten jeweils 12.000 Pesos – was zu diesem Zeitpunkt ca. 300 Euro entsprach – sowie eine Projektvereinbarung zur Unterschrift, durch die sie sich bereit erklärten, jeweils einen Teil unseres Honorars innerhalb von 60 Minuten nach eigenem Ermessen auszugeben und diesen Vorgang fotografisch festzuhalten. Das Projekt dauerte so lange, bis unsere Gage vollständig aufgebraucht war.

Dach eines Flughafenterminals. Im Fokus ein Performer in Anzug und Trenchcote, der betragen nach unten schaut. Um ihn herum vier weitere Personen in Anzug und Bürooutfits, die ihn anschauen. Eine von ihnen schaut ebenfalls auf den Boden. © Hofmann Lindholm

Ihre künstlerische Methode besteht ja seit jeher darin, mittels szenischer Anordnungen – wie eben in Notes from Germany – in die Alltagsrealität einzugreifen und durch entsprechende Perspektivverschiebungen bestimmte Phänomene sichtbar zu machen. In Ihren früheren Arbeiten waren Sie dabei allerdings noch häufiger auf Theaterbühnen anzutreffen. Mittlerweile, so scheint es, haben Sie sich immer konsequenter aus dem Bühnenkontext heraus- und in den öffentlichen Raum hineinbewegt. Was ist der Grund für diese Verschiebung?

Hofmann: In den ersten zehn, zwölf Jahren haben wir mit unseren Komplizinnen und Komplizen meistens Aktionen umgesetzt, die außerhalb des Theaters – im öffentlichen oder auch im privaten Raum – stattfanden und an die sich dann Inszenierungen anschlossen, die von diesen Aktionen berichteten und sie zur Diskussion stellten.

„Kompliz*innen“ nennen Sie die bei Ihnen mitwirkenden Akteurinnen und Akteure: Menschen, die Sie aus Alltagskontexten heraus für Ihre Arbeit gewinnen, die mit wenigen Ausnahmen nicht über eine professionelle Schauspielausbildung verfügen und die sich gern mit Ihnen in Grauzonen bewegen.

Hofmann: 2011 haben wir dann mit Heile Welt eine Zäsur gesetzt und einen Abend präsentiert, der sich kritisch mit der Inszenierung von „echten“ Menschen auseinandersetzte und mit diesem Verfahren abrechnete: Wir führten ein Marketingmanöver durch und luden Menschen dazu ein, die Bühne als Werberampe für ihre eigenen Unternehmungen zu nutzen. Das Szenario – das war der kritische Aspekt daran – stellte die Menschen dabei explizit aus, sie selbst hatten nichts zu sagen, stattdessen wurde über sie geredet, oder besser gesagt: wurden Dinge auf sie projiziert.

Lindholm: Das fiel genau in die Zeit, in der Authentizität auch im Werbebereich als Schlüsseltool verkauft wurde, und diese Analogie hat uns viel über unsere eigene Arbeitsweise zurückgespiegelt.

Hofmann: Hinzu kam, dass wir bei unseren Kompliz*innenstücken im Theater irgendwann das Gefühl bekamen: Jetzt wissen wir langsam, wie das funktioniert. Wir haben uns aber nicht als Fachleute verstanden und wollen eigentlich auch nach wie vor keine werden, sondern uns immer wieder neue Felder erschließen, um ungekannte Dinge auszuprobieren. Und da wir zu diesem Zeitpunkt erstmalig die Spitzenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen bekamen, hatten wir endlich auch eine langfristige Absicherung, die es uns ermöglichte, neue Experimente zu wagen.

Drei Performer*innen auf der Bühne. Sie halten jeweils einen aufgeklappten Kasten vor sich in dessen inneren Produkte einer Warenhauskette zu sehen sind. © Sandra Then

Diese Experimente sind tatsächlich von großer konzeptioneller Konsequenz. In Nobody`s there aus dem Jahr 2021 – einer Arbeit, die neben vielen anderen Aspekten das Thema der digitalen Überwachung in den analogen Raum überträgt – haben Sie sich nicht nur aus dem Bühnenkontext zurückgezogen, sondern sogar selbst, als Regieteam, aus dem eigenen Werk: Sie haben Menschen gesucht, die Lust haben, sich in fremden Wohnungen zu verstecken, sowie andere, die es im Gegenzug mögen, wenn sich bei ihnen jemand versteckt, und diese beiden Seiten zusammengebracht. Die Anordnung bricht im Grunde mit allen gängigen Theaterkonventionen: Es gibt keine Zuschauenden mehr, sondern nur noch Mitwirkende, die die Situation ganz allein gestalten, ohne Ihre Anwesenheit, ohne Ihr Zutun. Man könnte glatt den Eindruck bekommen, Sie seien ein grundbescheidenes und über jedwede Urheberschaftseitelkeit erhabenes Künstler*innenduo. Brauchen Sie tatsächlich keinen Applaus?

Hofmann: Ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. Was auch ein Grund dafür ist, dass wir uns über die Auszeichnung mit dem Tabori Preis wirklich ganz besonders freuen!

Lindholm: Was aber stimmt ist, dass diese Repräsentation oder Repräsentanz auf der Bühne, von der Hannah vorhin sprach – diese nachträgliche Reflexion unserer Aktionen, die im öffentlichen Raum stattgefunden hatten, im Theater – etwas ist, was uns inzwischen viel weniger reizt als die Durchführung der Aktionen selbst. Wir interessieren uns für die Entwicklung bestimmter Setzungen, Anordnungen oder Szenarien, aber es braucht uns nicht so sehr als diejenigen, die Darstellungsmodi finden oder Menschen für die Bühne empowern, das hat uns, unter anderem, Nobody`s there in aller Deutlichkeit gezeigt.

Hofmann: Wir fragen uns in letzter Zeit manchmal, ob wir uns mit diesen Arbeiten gerade selbst auf eine Weise zum Verschwinden bringen – und ob das eine notwendige Konsequenz ist. Wenn wir von einer Konzeption überzeugt sind, empfinden wir es als unsere Aufgabe, ihr so beharrlich wie möglich nachzugehen und der Sache zu folgen, ja vielleicht sogar ihr zu dienen. Ich bin gespannt, wohin uns das noch führen wird.

Lindholm: Was wir auf jeden Fall sehr schätzen, ist eine bestimmte Form der Fremdheitserfahrung gegenüber unserem eigenen Werk. Wenn die Anordnung stimmig ist, ist es irgendwann tatsächlich so, dass wir ihr selbst wie etwas Fremdem gegenüberstehen. Statt eines Wiedererkennungseffekts – ah, hier passiert jetzt dieses oder jenes, weil das so einstudiert wurde – stellt sich das Gefühl ein, sich einem Phänomen auszusetzen, das man selbst mit einem ähnlichen Außenblick betrachtet wie die anderen Menschen. Das sind dann sehr bereichernde Erfahrungen!

Dunkle Bühne, erleuchtet im Fokus sitzt ein Mann auf einem Stuhl. Zu seinen Füßen ein Perserteppich. Zu einer Seite im Hintergrund eine Leinwand mit Projektion. Zur anderen Seite in der Ferne eine Performer, der den ersten anschaut. © Dorothea Tuch

Selbsterweiterung statt Selbstbestätigung – das ist wahrscheinlich tatsächlich das Maximum, das man mit Kunst erreichen kann. Aber noch einmal zurück zum „Verschwinden“: Mir scheint, der Topos des Abwesenden spielt nicht nur in Nobody`s there eine tragende Rolle, sondern generell in Ihrer künstlerischen Arbeit.

Lindholm: Das nicht Sichtbare ist sicherlich für uns ein grundlegendes Thema in der Auseinandersetzung mit Theater – so kann man es sagen.

Hofmann: Das, was verdrängt ist, was auf eine Weise an den Rand gedrängt wird. Ich glaube, uns geht es vor allem darum zu zeigen, dass immer dann, wenn etwas sichtbar ist, etwas anderes gerade unsichtbar ist.

Im Zoom treten Störgeräusche auf, Hannah Hofmann beugt sich von ihrem Schreibtisch herunter.

Hofmann: Nicht wundern, jetzt gibt es hier komische Geräusche. Das ist meine Hündin. Die träumt.

Ihre Hündin gehört auch zum Team, habe ich auf Ihrer Website gelesen.

Hofmann: Ja, sie ist dabei sehr empathisch, Menschen zugewandt. Aggression oder laute Worte kann sie nicht vertragen. Sie ist eine große, schwarze Hündin, und wenn jemand schreit, fängt sie an zu zittern. Wer das schon einmal erlebt hat, will das in Zukunft tunlichst vermeiden.

Ihre Hündin ist also das Sozialgenie im Team?

Hofmann: Sie sorgt nicht nur für ein gutes Klima, sondern schärft auch unser aller Blick über den Tellerrand. Denn sie ist ein Alien unter Menschen. Sie nimmt anders wahr und betrachtet alles, was wir veranstalten, aus einer anderen Perspektive. Und da sie sehr kommunikationsstark ist, bekommt man auch mit, dass sie zu den Dingen eigene Gefühle entwickelt. Das ist spannend.

Lindholm: Außerdem hilft sie uns bei der Strukturierung unseres Alltags. Als sie noch nicht da war, haben wir einfach immer weitergearbeitet, ohne Punkt und Komma. Man merkte nicht, dass Mittag war, man realisierte nicht, wie es draußen dunkel wurde. Unsere Hündin macht uns jetzt darauf aufmerksam. Das ist ungemein hilfreich, um eine bestimmte Form von Leben nicht aus dem Blick zu verlieren.

Ich würde zum Schluss gern noch einmal darüber sprechen, wo Sie sich selbst eigentlich in der Freien Theater- und Performanceszene verorten. Sie intervenieren ja als Künstler*innenduo einerseits konkret in die Wirklichkeit, verfolgen gleichzeitig aber auch überaus hohe Komplexitäts- und ästhetische Ansprüche. Kathrin Tiedemann, die Leiterin des FFT Düsseldorf, hat vor einigen Jahren einmal über Sie geschrieben: „Hannah Hofmann und Sven Lindholm sind zu sehr Künstler, um Aktivisten zu sein. Gleichzeitig sind sie aber auch zu wenig Theatermacher, als dass sie sich mit rein symbolischen Handlungen im Bühnenraum zufriedengeben würden.“ Finden Sie sich in dieser Beschreibung wieder?

Hofmann: Dass wir kunstschaffende Aktivist*innen sind, würde ich nicht sagen; wir folgen keiner bestimmten Ideologie oder Politik, haben in diesem Sinne also keine Agenda. Es gibt ja inzwischen sehr viele verschiedene Definitionen von diesen Kategorien, aber prinzipiell glaube ich, dass die künstlerische Auseinandersetzung glücklicherweise wahnsinnig komplex sein darf, während es beim Aktivismus tatsächlich um klare Aussagen, Botschaften und Ziele geht. Da sehe ich einen großen Unterschied zu der Arbeit, die wir machen. Und die zweite Frage – ob wir Theatermacher*innen sind oder nicht – wird vielleicht die Zeit beantworten.

Lindholm: Ich würde unterstreichen, was Hannah sagt. Aktivismus ist ja von einer eindeutigen Kritik an etwas motiviert und verfolgt das klare Ziel, das betreffende Problem hinter sich zu lassen. Wir verstehen uns dagegen viel mehr als Menschen, die gesellschaftliche Phänomene durch Verfremdung, durch Umfunktionieren oder Dekontextualisierung sichtbar machen, sie heraus- und zur Disposition stellen. Wenn dadurch etwas Soziales bewirkt wird, sind wir natürlich die Letzten, die finden, das sei nicht von Interesse. Aber es steht nicht im Zentrum unserer Arbeit. Es ist nichts, was wir produzieren wollen, sondern etwas, was sich bestenfalls einstellen kann.

Sie haben Ihr Label Hofmann&Lindholm im Jahr 2000, nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, gegründet und arbeiten also bereits seit über zwanzig Jahren zusammen. Im Gespräch wirken Sie unglaublich harmonisch. Gibt es bei der Konzeption Ihrer Projekte eigentlich auch Konflikte?

Lindholm (lacht): Die ganze Zusammenarbeit ist ein Konflikt, von Anfang an!

Hofmann: Wir sind ja kein Kollektiv aus drei oder vier oder fünf Leuten, das gegebenenfalls Mehrheitsentscheidungen treffen kann, sondern wir sind eben zwei – was heißt, dass wir immer einen Konsens finden müssen. Und das bedeutet tatsächlich fast immer Konflikt. Gleichzeitig stand bislang für uns nie zur Debatte, Einzel-Projekte zu machen. Es zeigt sich doch immer wieder, dass wir zusammen am besten sind.

Wie kommen Sie denn aus einem konkreten Konflikt zu einer gemeinsamen künstlerischen Lösung?

Hofmann: Wir haben irgendwann tatsächlich eine Regel aufgestellt. Wenn einer von uns beiden sagt: „Ich bin sicher“, dann wird es so gemacht. Und mit diesem Satz versuchen wir seither entsprechend sorgfältig umzugehen.