Zusammen Denken und Fühlen

Von Elisabeth Wellershaus

Wo – und mit wem – findet Theater heute statt? In Parks, U-Bahnhöfen oder Spielplätzen? Bei Audio-Walks? Ein Beitrag über Begegnungspotentiale im Theater.

So langsam beginnen die Erinnerungen an den letzten Herbst die aktuellen Sommereindrücke zu überlagern. Sie schieben sich über Freibaderlebnisse und Picknicks im Park, über Dürren und Starkregenepisoden, die zwischen schwankenden Temperaturen die Kulisse unserer fragilen Gegenwart bilden. In meiner Wahrnehmung war der Herbst früher immer eine Jahreszeit, in der die Dinge sich beruhigten. In der das Leben kühler und überschaubarer wurde und ich nach flirrenden Sommermonaten wieder zu mir fand. Aber man gewöhnt sich daran, dass Überschaubarkeit kein Maßstab mehr ist, an dem das Leben sich messen lässt. Dass Wetter, Klima und Jahreszeiten ebenso unberechenbar geworden sind wie das Miteinander in überforderten Umwelten.

Aktuell steigen die COVID-Infektionszahlen wieder. Bislang noch nicht so stark, dass sie zum medialen Dauerbrenner werden. Aber immerhin so sehr, dass Berührung und Begegnung in kommenden Monaten wieder abnehmen könnten. Dabei scheint der Moment, in der FFP2-Masken plötzlich nicht mehr zu den Alltags-Accessoires gehörten, kaum noch greifbar. Die Zeit, in denen sich ein Abendessen mit Freund*innen wie eine wilde Party anfühlte und ein Abend im Theater wie eine kleine Revolution, liegt in gefühlter Ferne. Und vermutlich ist es so genau richtig. Dass die Erinnerung an die Distanz sich verflüchtigt – auch wenn sie Spuren hinterlassen hat.

Die Freie Theaterszene ist in vergangenen Jahren durch Höhen und Tiefen gegangen. Sie musste zusehen, wie Spielstätten auf unbestimmte Zeit die Türen schlossen, wie die eigene Arbeit durch den nötigen Infektionsschutz in der Isolation stattfand und das Publikum zu Hause blieb. Doch strukturbedingt ist diese Szene seit langem daran gewöhnt, unter widrigen Bedingungen zu arbeiten. So haben etliche Künstler*innen aus der Not abermals Kreativität geschöpft. Sie haben sich neuen Probe- und Aufführungsbedingungen angepasst. Haben drängende Fragen an die Gesellschaft gestellt und nach inklusiveren Aushandlungsorten gesucht, in denen sich über neue Wege in die Zukunft nachdenken lässt.

Unter anderem lassen sich schwankende Zustände aus vielen ihrer aktuellen Arbeiten ablesen. Ebenso jedoch der Wunsch, bestimmte Themen und Produktionsansätze zu vertiefen, sich die Zeit zu nehmen, um dem Publikum in neuen Formen und Konstellationen zu begegnen.

Die diesjährige Ausgabe der Bundesweiten Artist Labs widmet sich diesem Begegnungsaspekt bewusst. Die Corona-Hilfen von NEUSTART KULTUR, die manchen Kulturarbeitenden für kurze Zeiträume unverhoffte Arbeitsfreiheiten ermöglichten, sind ausgelaufen. Nun gilt es, neue Begegnungsräume, die in pandemischen Zeiten erdacht und erprobt wurden, ohne Netz und doppelten Boden zu bespielen. Die Auseinandersetzungen, die in dieser Ausgabe der Artist Labs stattfinden, widmen sich in unterschiedlichsten Formen einer Evaluierung des Arbeitens unter den Bedingungen einer Pandemie – und der Zeit danach. Der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Performenden und Publikum unter aktuellen Bedingungen verstetigen lässt.

Nächtliche Außenansicht vom Haus der Berliner Festspiele. Die Innenräume der Foyers sind erleuchtet. Schemenhaft sind Personen zu erkennen, die davor und darin im Gespräch beieinander stehen. © Dorothea Tuch

Denn wo ist performative Berührung dieser Tage überall möglich, wo – und mit wem – findet Theater heute statt? Dort wo eine superdiverse Gesellschaft zur detaillierteren Auseinandersetzung mit neuen Publika anhält? Wo universalistische Visionen auf intersektionale Realitäten treffen? Wo die inflationäre Nutzung von Begriffen wie Diversität unter die Lupe genommen wird? Wo Kinder zu ernstzunehmenden Forschenden werden und Jugendliche zu Expert*innen für Dekolonialisierung? Wo das Wünschen wieder Raum erhält und wo mehr Fragen gestellt werden als reflexhafte Antworten hervorgekramt? In Parks, U-Bahnhöfen oder Spielplätzen? Bei Audio-Walks, in virtuellen Spielstätten und überall dort, wo performative Interventionen noch überraschen?

Über 60 Gruppen sind 2023 an den Bundesweiten Artist Labs beteiligt. Entsprechend heterogen sind die Ansätze, die es zu verhandeln und zu dokumentieren gilt. Denn, wie so oft in diesen Zeiten, geht es um fast alles. Die Labore werden in diesem Jahr von einem Team aus zehn Kurator*innen betreut, die sich der Stimmen- und Ideenvielfalt widmen, indem sie sich um bestimmte Themenbereiche kümmern. Das Konzept der begleitenden redaktionellen Beiträge folgt dieser Logik und widmet sich in 14 Artikeln den Themen der diesjährigen Labs. Es greift die Erkenntnis auf, dass Kunst und Performance in diesen Tagen mehr denn je von der Vernetzung leben; dass interdisziplinäre Ansätze und die Verweigerung klarer Zuschreibungen Gesellschaften im rasanten Wandel beschreiben. Journalist*innen und Expert*innen werden daher auch aus persönlichen Perspektiven zu den Themen schreiben und aus den Gesprächen mit Labor-Teilnehmenden erzählen.

Was uns dabei vor allem interessiert: Wo liegen die Dialogpotentiale in Zeiten vermeintlicher Zersplitterungen? In welchen Räumen lässt sich konstruktiv streiten? Wo lässt sich partizipieren und repolitisieren, ohne sich im Getümmel der Differenz aus den Augen zu verlieren? Und wo können die verschiedenen Publika mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen sich aufgehoben fühlen?

Um Fragen wie diesen zu begegnen, braucht es offene Räume und einen langen Atem. Es braucht Zeit, um eine Intimität wiederherzustellen, die unsere Gesellschaft in vergangenen Jahren fast verlernt hätte. Vielleicht entdecken wir über die performative Annäherung ja sogar die radikale Zärtlichkeit, über die Seyda Kurt in ihrem gleichnamigen Buch schreibt. In dem Versuch, ihr ein Stück näher zu kommen, loten Kulturarbeitende bei den diesjährigen Artist Labs aus, wo die Grenzen zwischen Kunst, Care-Arbeit und Zukunftsvisionen verlaufen.

Die zentrale Frage dabei bleibt: Wie werden aus suspendierten Publika berührbare Kompliz*innen?

Wir werden es nur gemeinsam rausfinden.

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Elisabeth Wellershaus ist Journalistin und Autorin und beschäftigt sich mit Fragen der Dekolonialisierung sowie mit kulturellen Aushandlungsprozessen rund um die Themen Nachhaltigkeit, Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Als Redakteurin arbeitet sie für verschiedene deutschsprachige Medien, unter anderem für die Kolumne 10nach8 bei Zeit Online. Ihr Buch „Wo die Fremde beginnt“ erschien im Januar 2023 bei C.H.Beck und wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.