Zwischen Katastrophe und Utopie

Von Elena Philipp

Flinn Works recherchieren im Wald und setzen ihre Hoffnung auf Veränderung durch Kunst

Borkenkäfer, Hitze und Dürre, der Feinstaub: Deutschlands Wäldern geht es nicht gut. Weit schlechter als in den 80ern, als die Luftverschmutzung und der saure Regen ihnen zusetzten und das Waldsterben zu einem Mainstream-Begriff wurde. Mittlerweile ist nicht einmal ein Drittel der Bäume in deutschen Wäldern ohne Schäden, so der Waldzustandsbericht 2022. Ein Thema für die Künste? Unbedingt, findet Sophia Stepf, die mit ihrer Schwester, der Performerin und Musikerin Lisa Stepf, und dem Regisseur und Autor Konradin Kunze die Gruppe Flinn Works leitet. „Lisa und ich sind in Kassel am Wald aufgewachsen. Wenn ich heute durch diesen Wald laufe, bin ich geschockt: Viele Buchen sind schon abgeholzt oder umgestürzt“, erzählt Sophia Stepf von ihrem biographischen Bezug zum Thema. Ihre Vertrautheit mit dem Wald hat sie als etwas Besonderes zu begreifen gelernt: „Viele Menschen haben keine emotionale Verbindung zum Wald. Sie kennen kein Waldstück so gut, dass sie die Veränderung spüren“, erklärt sie.

Die Veränderungen durch Klimakrise, Umweltveränderung und Übernutzung können die Darstellende Künste sichtbar machen, da sind sich Sophia und Lisa Stepf sowie Dominik Steinmann sicher. Steinmann ist im Flinn Works-Projekt „Schlachtfeld Wald“ für die Ausstattung zuständig. „Mich fasziniert, an welchen Feldern die Kunst mitwirken kann“, sagt er über das Projekt. „Als Thema ist das wahnsinnig aktuell. Mit der Energiekrise muss der Wald sofort wieder herhalten als Lieferant“, sorgt sich der gelernte Tischler und Bühnenbildner. „Wie viele Ansprüche an Wald gestellt werden, die er nicht erfüllen kann: das hat wirtschaftliche Komponenten, es geht um den Schutz von Ökosystemen und um Freizeitgestaltung, manche wollen Pilze sammeln, andere Mountainbike fahren. Allein diese vielen Leute an einen Tisch zu bringen, um zu diskutieren, wer den Wald wie nutzen darf, ist kompliziert.“ Aber Sophia Stepf ist optimistisch, dass künstlerische Projekte hierbei helfen können: „Ich habe das Gefühl, wir könnten für Leute schnell eine Wahrnehmungsveränderung erzeugen.“

Mit einer Prozessförderung im NEUSTART KULTUR-Programm #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste hatten sie die Gelegenheit, sich dem Wald künstlerisch zu widmen. „Das Thema liegt bei mir seit bald einem Jahrzehnt in der Schublade“, sagt Sophia Stepf. In den auf Premieren und Touring fokussierten Produktionszusammenhängen für Freie Gruppen ist das Arbeiten außerhalb der Black Box Theater allerdings kaum möglich. „Da ist die Prozessförderung ein Segen.“

Endlich ging es ins Freie, zur musikalischen, theatralen und bildnerischen Forschung zwischen Fichten, Kiefern und Buchen. Ein Team von sieben Künstler*innen – Regisseurin Sophia Stepf, Streicher*innen von Lisa Stepfs Quartett PLUS 1, eine Dokumentarfilmerin, eine Theatermacherin, und Dominik Steinmann, dem als gelernten Möbelschreiner das Arbeiten mit Holz vertraut ist. Beobachten durften Flinn Works in zehn Tagen ihrer Recherche in Brandenburg etwa ein queeres Kollektiv von Waldarbeiter*innen, die auf einem Privatgrundstück acht Kiefern fällten. „Das war unglaublich performativ“, ist Lisa Stepf begeistert. „Wir haben musikalisch mit Kettensägen und Häckslern interagiert und mit Dominik an der Fräse improvisiert“, erzählt die Cellistin. Die Maschine sei erstaunlich musikalisch und könne eine Vielzahl an Tonhöhen erzeugen. „Ein Cello und eine Fräse zu beherrschen, ist beides Handwerk. Das haben wir gemeinsam“, beschreibt Lisa Stepf die Verbindung auf Augenhöhe zwischen den Beteiligten am Forschungsprozess.

Ein Park. Drei Personen tragen Kleidung, die mit Blättern bedruckt ist. Zwei spielen Geige, eine Violine. Alle drei sind einem Tisch zugewandt an dem eine weitere Person sitzt. © Flinn Works

Das Gute an der Prozessförderung sei, dass ein Endprodukt nicht zwingend entstehen müsse, sondern die künstlerische Forschung ergebnisoffen bleiben dürfe, betont Lisa Stepf. „Wir denken schnell: So könnte es dann aussehen, das wäre dann die Produktion. Es ist uns erst einmal schwergefallen, nicht in diese Richtung zu gehen. Aber dann haben wir es ausgekostet, den Möglichkeitsraum abzutasten und einen Schritt zurück zu treten.“ Auch Sophia Stepf fand es entlastend, sich nicht sofort überlegen zu müssen, wie ein verwertbares künstlerisches Produkt entstehen könnte. „Das war ein Highlight für mich: wie produktiv und gleichzeitig entspannend es sein kann, wenn man nicht jeden Tag in der Black Box ohne Licht arbeitet, sondern sich im Wald aufhält. Das hätten wir uns ohne diese Art Prozessförderung niemals getraut.“

Dabei sei es so wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Themen rund um Deutschlands Wälder zu lenken, betont die gelernte Dramaturgin. Die Waldbrände der vergangenen Jahre werden keine Einzelfälle bleiben, ist Sophia Stepf nach den Gesprächen mit Wissenschaftler*innen für „Schlachtfeld Wald“ sicher. Nachhaltig beeindruckt hat die Gruppe ein Besuch auf einem Pyrophob in Treuenbrietzen im Süden Berlins. Auf den Versuchsflächen testen Biolog*innen unterschiedliche Herangehensweisen an die Renaturierung verbrannter Waldflächen. Was geschieht, wenn sie aufgeforstet werden? Was, wenn sie ohne menschliches Zutun nachwachsen? „Je weniger der Mensch eingreift, desto besser erholt sich der Wald“, hat Sophia Stepf erfahren. „Beeindruckend am Pyrophob ist das Nebeneinander von totaler Katastrophe – Kohle, verbrannte Bäume, die umstürzen, der Inbegriff von Schlachtfeld Wald – und einer Utopie. Eine junge Biologin hat uns euphorisch gezeigt, wie viele Pflanzenarten dort schon nach kürzester Zeit wieder wachsen.“ Diese Zeitgleichheit von Dystopie und Utopie erfüllt Flinn Works mit der Hoffnung, dass es für den Wald trotz derzeit desaströser Zustände irgendwie weiter gehen wird.

Ein, der Länge nach, aufgeschnittener Baumstamm, in den „sterben wir zusammen“ eingefräst ist. Mit dem Kugelschreiber fährt jemand die ausgefrästen Buchstaben nach. © Flinn Works

Und wie geht es weiter mit dem Wald-Projekt von Flinn Works? Videomaterial ist entstanden, das zu einem kurzen Trailer geschnitten wurde. Dominik Steinmann fräste Sätze aus dem aktivistischen Manifest „How to grow livable worlds?“ der Biologin und Anthropologin Natasha Myers in gefundene Äste. Das Holzstück mit der Aufschrift „Enjoy life. I made it“ hinterließen Flinn Works für Besucher*innen und Waldspaziergänger*innen. Ein anderes mit der Frage „Sterben wir zusammen?“ hat die Gruppe mitgenommen. „Das wirkt im Theaterraum anders als im Wald“, sagt Sophia Stepf. Vielleicht wird es in einer ihrer Inszenierungen zum Einsatz kommen. Flinn Works arbeiten über längere Zeiträume immer wieder an Kernthemen wie Globalisierung, Postkolonialismus oder Feminismus. Die meisten ihrer seit 2009 entwickelten rund 20 Stücke entwickelten sie mit regionalem Schwerpunkt. 2015 etwa entstand „Keep Calm and #ashtag“ für indische Schüler*innen zum Thema Gender im öffentlichen (Cyber-)Space und im gleichen Jahr „Songs of the T-Shirt“ zur Textilindustrie in Bangladesch. 2017 hatte Flinn Works „Global Belly“ zu transnationaler Leihmutterschaft als Geschäftsmodell Premiere und 2020 „Learning Feminism from Rwanda“ zu Gendergerechtigkeit in Gesellschaft und Politik. Vielfach ausgezeichnet sind Flinn Works für ihre recherchebasierte Arbeit zwischen Ethnologie, Neuer Musik und Dokumentartheater. 2021 erhielt das Kollektiv die Tabori-Auszeichnung des Fonds Darstellende Künste, 2023 wird die Gruppe beim Festival Theater der Welt mit dem Preis des internationalen Theaterinstituts Deutschland ausgezeichnet.

Mit „Schlachtfeld Wald“ erweitern Flinn Works ihr thematisches Interesse in Richtung Klimakrise. „Für uns hat das eine große Dringlichkeit“, sagt Sophia Stepf. „Unsere Kinder fragen uns: Warum macht Ihr nichts? Da muss ich jedes Mal schlucken. Unsere Stücke waren schon immer politisch. Inzwischen steht oft auch ein aktivistischer Impuls dahinter.“ Daher kommen auch die Gedanken, wen sie mit ihrer Arbeit erreichen und an wen sie sich mit „Schlachtfeld Wald“ wenden wollen. An politische Entscheider*innen, die über die Zukunft des Waldes mitbestimmen – oder doch an Kindergartenkinder, die so früh wie möglich eine Verbindung zum Wald aufbauen sollen? Die Recherchen zu „Schlachtfeld Wald“ werden ihre Form finden. Und vielleicht münden sie auch in größere Vorhaben: „Es wäre toll, ein Festival oder Symposium zu organisieren, mit allen Künstler*innen, die zu Klima und Wald gearbeitet haben, um sich auszutauschen“, regt Sophia Stepf an. Zeitgleich mit Flinn Works hat auch die Gruppe Pandora Pop in den Wäldern rund um Berlin gearbeitet, und Rimini Protokoll hatten im Herbst 2022 mit „16 Szenen für einen Wald“ auf Burg Hülshoff Premiere. Hier steckt ein Thema für die Künste, eindeutig. Denn das Wohlergehen des Waldes geht uns alle an.

Von der Förderung in den Probenraum und auf die Bühne – die Kulturjournalist*innen Georg Kasch und Elena Philipp besuchen im Rahmen von #TakeHeart des Fonds Darstellende Künste geförderte Projekte.