World-Building: Förderung von künstlerischen Produktionsformen unter veränderten Vorzeichen
Vortrag beim Symposium „Transformationen der Theaterlandschaft"
Prof. Dr. Kai van Eikels, Laura Pföhler, Christoph Wirth – Ruhr Universität Bochum
Exposé
Die Covid-Krise hat eine lebensbedrohliche Situation für die Freie Szene gebracht, die seit Jahrzehnten die wichtigste kreative Triebkraft im Bereich Theater, Tanz, Performance, Zirkus, Kinder- und Jugendkultur war, jedoch unter ökonomisch äußerst prekären Bedingungen arbeitete, sodass die ästhetische und oft auch politisch-soziale Experimentierfreude der Künstler*innen regelmäßig mit Selbstausbeutung am Rand des Existenzminimums einherging. In einer Normalität, die kurztaktiges, billiges Produzieren mit meist nur wenigen Aufführungen trotz Tourbetrieb bestimmte, führte die Schließung der Produktions- und Spielhäuser während der Lockdowns innerhalb kürzester Zeit zum Kollaps des Systems. NEUSTART KULTUR konnte viele Künstler*innen und Gruppen bislang vor dem Absturz bewahren. Es bleibt aber die Notwendigkeit einer Umgestaltung von Finanzierungs-, Produktions- und Aufführungsstrukturen, die mehr Krisenfestigkeit damit verbindet, innovative Bewegungen zu unterstützen, wie sie sich aktuell bereits zeigen.
Unsere Studie untersucht solche innovativen Bewegungen. Sie fokussiert dafür die Wechselwirkungen zwischen Veränderungen im Arbeitsprozess und ästhetischen Veränderungen. Anhand von „good practices“ zeigen wir zukunftsträchtige Ansätze auf, mit denen Künstler*innen der Freien Szene auf die Herausforderungen durch die Krise 2020 und 2021 reagiert haben. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie für die Live Arts eine ökologische Ästhetik entwickeln. In einer sorgfältigen Sondierung und Reflexion der gegenwärtigen Zäsur entwirft die Studie unter dem Titel „World-Building“ die Vision einer Kultur, die soziale, politische, ökologische und ästhetische Prozesse vermittelt, indem sie Menschen Gelegenheiten bietet, gemeinsam Welt(en) zu gestalten – und sich so in Formen und Dynamiken des Gemeinsamen zu üben, die ein selbstorganisiertes ziviles Engagement für den notwendigen radikalen gesellschaftlichen Wandel zu tragen vermögen.
1. Kritische Affirmation von digitalen Technologien und eigenes Programmieren von Software in Online- und Hybridformaten: Die
Live Arts testen, wie künstlerische Arbeitsweisen Software im Gebrauch
so aneignen können, dass das Gebrauchen gegenüber den Setzungen des
Produktdesigns eigene Freiheiten erschließt, und experimentieren selber
mit Coding. Sie nutzen peinliche Momente des technischen
Ins-Schlittern-Geratens für Glitch-Strategien, die mit dem Funktionieren
auch soziale Zwänge, Gender-Konventionen und etablierte Machtgefüge in
Frage stellen.
2. Die Macht der Animation bestimmt Liveness neu: Live
ist gegenwärtig alles, was sich live anfühlt. Künstler*innen
konzentrieren sich weniger auf das Design überwältigend illusionärer
virtueller Welten als auf eine kluge Kooperation mit der
Einbildungskraft der Partizipierenden. Animation wird so zu einem
allgemeinem Wirkungsprinzip: Die Technologie – ob Textchat, Telefon oder
VR – animiert dazu, das, was sie präsentiert, zu verlebendigen. Statt
als Menge von Objekten, die auf einer Szene vor Augen steht, erfahren
wir die Welt als ein Milieu, in das wir selbst mit hineingehören.
3. Sinnes-Remix – vom Szenen-Bild zur evokativen Stimme: Das
Visuelle tritt zurück gegenüber Stimmen und suggestiven Soundscapes –
in Reaktion auf die pandemiebedingte Bildschirmmüdigkeit, aber auch
angeregt durch die Kraft von ASMR-Videos, online intensive körperliche
Beziehungen zu stimulieren: “Das Medium ist Massage.” Fragen nach den
Grenzen von Körpern werden neu stellbar.
4. Gemeinsames World-Building redeterminiert das Konzept ›Aufführung‹: Die
Live Arts greifen Formate wie Live Action Role-Play (LARP) auf, um im
Modus eines World-Building einen kollektiven Forschungsprozess zu
ermöglichen, in dem die Partizipierenden Figuren erfinden und
verkörpern. Diese alternativen Selbst-Entwürfe befragen einander
gegenseitig und prüfen die Möglichkeiten eines Zusammenlebens. Es
entsteht ein temporärer Sozialvertrag, der zugleich ein ökologischer
Vertrag zwischen Menschen und diversen anderen, realistischen und
phantastischen Spezies ist.
Wir empfehlen, a)
längere Projektlaufzeiten zu ermöglichen, um dem erhöhten Zeitbedarf
für Softwareentwicklung, Lernprozesse und transdisziplinäre
Kooperationen Rechnung zu tragen; b) die Förderung von offenen Rechercheprozessen auszubauen; c)
stärker kollektive künstlerische (Forschungs-)Praktiken zu fördern,
nicht nur in Konkurrenz stehende Einzelprojekte oder individuelle
Gruppen, und schlagen als neues Format das Netzwerk Künstlerische
Forschung vor.
Beteiligte
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Prof. Dr. Kai van Eikels
Ruhr-Universität Bochum
© privatProf. Dr. Kai van Eikels
Ruhr-Universität BochumKai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler. Nach Gastprofessuren in Gießen, Berlin und Hildesheim ist der derzeit als Akademischer Oberrat am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind anarchische, selbstorganisierte Kollektivformen; Kunst und Arbeit; Politiken des Performativen; Synchronisierung, Zeit und Materialität; Cuteness. Veröffentlichungen u.a. „Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie“ (2013); „Art works – Ästhetik des Postfordismus“ (mit dem Netzwerk Kunst + Arbeit, 2015); „Synchronisieren. Ein Essay zur Materialität des Kollektiven“ (2020);
Theorie-Blog: https://kunstdeskollektiven.wordpress.com
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Laura Pföhler
Ruhr-Universität Bochum
© Anne KüperLaura Pföhler
Ruhr-Universität BochumLaura Pföhler studierte Soziologie an der Universität Mannheim und Kulturvermittlung mit Schwerpunkt Theater an der Universität Hildesheim. Als Mitglied des Kollektivs STERNA | PAU und dem Musiktheater-Netzwerk fachbetrieb rita grechen entwickelt sie als freie Theatermacherin Performances und partizipative Formate in digitalen, öffentlichen und theatralen Räumen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Partizipation, Formen von feministischer Selbstorganisation, Hexerei und Hacking als politische technologisch-ökologische Praxen und Popkultur.
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Christoph Wirth
Ruhr-Universität Bochum
© Christoph WirthChristoph Wirth
Ruhr-Universität BochumChristoph Wirth, *1985, arbeitet als Dramaturg, Regisseur und Musiker. Unter dem Namen OS (OBLIQUE SENSATIONS/OBJECTIVE SPECTACLE) entwickelt er interaktive wie -passive Performances und performative Umgebungen an der Schnittstelle von Konzept-Kunst, ästhetischer Forschung und experimenteller Musik. Seit Ende 2019 forscht er an Übertragungen von virtual-reality Technologie für szenische Kontexte. Als Dramaturg arbeitete er in und für verschiedene Konstellationen unter anderem für Laurent Chétouane, PACT Zollverein, das Centraltheater Leipzig und langjährig für die freien Gruppen Internil und Institutet. Gastdozenturen und Workshops führten ihn unter anderem ans TEAK Actors Studio Helsinki, Manufacture Lausanne und die UdK Berlin. Derzeit ist er Stipendiat der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund.