Recherche, Projekt, Prozess – Veränderungen der Arbeitspraxis in den frei produzierenden Darstellenden Künsten durch die Etablierung von Mehrjahresförderungen

Vortrag beim Symposium „Transformationen der Theaterlandschaft"

Dr. Philipp Schulte, Hessische Theaterakademie, Frankfurt am Main

Exposé

Die Teilstudie „Recherche, Projekt, Prozess“ nimmt die Frage in den Blick, welche qualitativen Auswirkungen Fördersystematiken, die auf Mehrjährigkeit hin konzipiert sind, auf die Produktionssituationen freischaffender Künstler*innen im Bereich der frei produzierenden Darstellenden Künste in der Bundesrepublik Deutschland haben. Welche Projektformen, Infrastrukturen, Arbeitsverhältnisse und -perspektiven werden durch die unterschiedlich befristeten Förderstrukturen herbeigeführt? Welche Effekte auf konkrete künstlerische Prozesse und Resultate lassen sich erkennen? Welche Bedarfe lassen sich daraus für ein Fördersystem, das den gesellschaftlichen Wert von Kunst anerkennt und künstlerischer Innovation von Nutzen ist, ableiten?

Der Charakter auf Mehrjährigkeit hin konzipierter Fördersystematiken berücksichtigt – über ein weiterhin dem konkreten künstlerischen Resultat (der Aufführung) und der damit erzeugten Öffentlichkeit (dem Publikum) geltenden Interesse hinaus – verstärkt prozessorientierte Faktoren, die eine Entwicklung einer/eines Einzelkünstler*in oder einer Gruppe, nicht zuletzt auch hinsichtlich seiner/ihrer Verortung in einer konkreten Region in den Blick nehmen. Nicht das vor allem am Resultat gemessene einzelne Projekt ist hier ausschlaggebend, sondern ein Prozess, der sich neben Premieren, Aufführungen und Gastspielen in unterschiedlichsten Formen manifestiert: Formen wie der kreativen Weiterentwicklung dienende Konzeptions- und Recherchephasen, die (Er-)Findung neuer Präsentationsformate oder die Erprobung neuer Begegnungsformate als Arbeit an der jeweiligen Öffentlichkeit, welche eine künstlerische Praxis generiert. Wie Einzelprojektförderungen werden auch Mehrjahresförderungen auf Basis von Anträgen bewilligt; diese sind jedoch dahingehend komplexer, als dass sie dem Erfordernis unterliegen, nicht nur ein einzelnes Projekt zu skizzieren, sondern Vertrauen in die Darstellung einer mehrere Jahre andauernden künstlerischen Entwicklung herstellen müssen, und verlangen den antragsstellenden Künstler*innen somit eine höhere Bereitschaft und Kompetenz zur Selbstreflexion und -verortung ab.

Die Fragen dieser qualitativen, auf Expert*inneninterviews beruhenden Teilstudie zu verschiedenen Formen und Aspekten der Mehrjahresförderung, mit denen die unterschiedlichen Gesprächspartner*innen sich auseinandergesetzt haben, lassen sich insgesamt fünf Leitfragenkomplexen zuordnen, die auch den vorliegenden Text gliedern. Sie alle behandeln je unterschiedliche Bereiche, auf die das Implementieren von Mehrjahresförderungen konkrete Auswirkungen hatte und haben kann. Diese Komplexe betreffen ein sich veränderndes Verständnis von Kunst in der Gesellschaft, damit einhergehende neue Anforderungen an künstlerische Produktionsprozesse, die Auswirkungen der Etablierung von Mehrjahresförderungen auf die Ausdifferenziertheit von Fördersystemen für Kunst selbst, ihre Auswirkungen auf ein Verhältnis zwischen produzierenden Künstler*innen und städtischen Theatern und Festivals als Produktionsplattformen, sowie auf den gesellschaftlichen und sozialen Status von Künstler*innen im Bereich der frei produzierenden, Darstellenden Künste.

Die aus der Teilstudie gewonnen Erkenntnisse belegen, dass neben Instrumenten wie Prozess-, Recherche und Residenzförderungen die Einrichtung und der Ausbau von Mehrjahresförderungen die (Arbeits-)Situation sowie die künstlerischen Resultate im Bereich der frei produzierenden Darstellenden Künste aus einer Vielzahl von Blickwinkeln nachhaltig und elementar stärken und ein wichtiges, ausbauwürdiges Element in der bundesdeutschen Förderarchitektur darstellen. Mehrjahresförderungen werden erstens einem sich verändernden Verständnis von Darstellender Kunst, die zunehmend als prozessorientierte verstanden wird, gerecht, und unterstützt mit diesem Verständnis einhergehende Produktionsweisen. Sie führen zweitens weg von rein ‚digitalen‘ Fördersystemen, die keine Alternativen zwischen institutionellen Dauer- und Einzelprojektförderungen bieten. Drittens stärken mehrjährige Förderstrukturen die Position frei produzierender Künstler*innen gegenüber Theaterhäusern und weiteren Veranstaltern wie Festivals. Und viertens verbessern sie den gesellschaftlichen Status von Künstler*innen und unterstützen ein Nachdenken über angemessene soziale Bedingungen für eine qualitative Kunstproduktion auf regionalem und überregionalem Niveau.

Beteiligte