Tabori Auszeichnung International - Jurybegründung: Nicoleta Esinencu & teatru-spălătorie

Teatru-spălătorie ist eine unabhängige Künstler*inneninitiative, die 2010 u.a. von Nora Dorogan, Nicoleta Esinencu, Doriana Talmazan, Artiom Zavadovsky und Kira Semionov gegründet wurde. Sie bietet Künstler*innen der unabhängigen moldauischen Kulturszene die Möglichkeit, sich auszudrücken, gehört zu werden und Stellung zu sozialen und politischen Themen zu beziehen.

In ihren Arbeiten schafft das Kollektiv eine Echokammer für politisch und gesellschaftlich relevante Themen. Es fordert das Publikum heraus, da es sich mit brisanten Themen,wie: Fragen des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit in "A(II)Rh+", dem Holocaust in "Clear Story", oder dem Kapitalismus und seine unerbittliche Neigung, neue Formen der Ausbeutung und Kolonisierung zu schaffen, in "Requiem for Europe" (2018) und "Symphony of Progress" (2022) auseinandersetzt. Auch die Entwicklungen der Familienpolitik im moldauischen Staat, mit der spezifischen Situation von Familien nach dem Zerfall der Sowjetunion bringen sie in ihrer Performance Abolition of the Family (2020) auf die Bühne. Hervorzuheben ist hier das dynamische künstlerische Zusammenspiel, das gleichzeitig die Politik und die Geschichte Westeuropas aufruft und Themen aufgreift, die sich in ihren eigenen Gemeinschaften abspielen. Das Kollektiv erforscht eine Praxis, die diese Möglichkeit der Debatte auf eine Art und Weise aufwirft, die es ihrem Vorschlag erlaubt, mutig und auf den Punkt zu sein. Bevor das Kollektiv beginnt, projizierte Klischees zu interpretieren, benennt es sie. Diese faszinierende Reflexion innerhalb gesellschaftlicher und sozialer – aber auch eigener – Grenzen wird in einer reduzierten Ästhetik produziert, die explizit anti-spektakulär daherkommt und so die Stärke der expliziten Themen und Inhalte unterstreicht.

So politisch orientiert und schwierig die Themen auch sind, so intim und undogmatisch werden sie erzählt. Die Schauspieler*innen tragen die Geschichten so pointiert vor, dass der/die Zuschauer*in nicht sicher sein kann, ob es sich um eine fiktive oder autobiografische Geschichte handelt. Die daraus resultierende Ungewissheit zwischen dem persönlichen Material und dem Körper des*r Darsteller*in auf der Bühne erzeugt eine ungeheuer starke Spannung, die das Publikum noch lange nach der Aufführung mit den leidenschaftlichen (emotionalen) Geschichten zurücklässt.

Ermöglicht wird diese starke Wirkung auf das Publikum durch eine sehr prägnante Erzählweise und ein großes Textbewusstsein, das die Darsteller*innen mit Präzision verkörpern. Die hohe Qualität des Textes zeigt sich in der Kunstfertigkeit seines dokumentarischen und persönlichen Charakters. Es ist diese Präzision und Nüchternheit des Materials einerseits und gleichzeitig die ständige Unterwanderung dieses biografischen Materials durch Klänge, Lichtspiele und Verzerrungen, die eine ästhetische Erfahrung des Politischen auslöst.

Die Fachjury des Fonds Darstellende Künste vergibt den mit 15.000 Euro dotierten Tabori Award International 2022 an Nicoleta Esinencu & teatru-spălătorie für eine faszinierende und einzigartige theatralisch-performative Form, die die individuellen Persönlichkeiten der Darsteller*innen und brisante politische Themen mit einer treffenden Ästhetik verbindet. Sie schaffen somit unvergessliche Inszenierungen, die über Grenzen und Publikum hinweg eine besondere Anziehungskraft ausüben.