Der „Fall CHICKS*” beim WILDWECHSEL-Festival

Der „Fall CHICKS*” beim WILDWECHSEL-Festival betrifft uns alle. Und wir betonen gerne: „Lecken” ist gefördert vom Fonds Darstellende Künste.

Der Fonds Darstellende Künste und das Verhältnis von Förderung und Kunstfreiheit. 

„Bundesweit bemerkenswerte Freie Darstellende Kunst durch die Organisation der Vergabe öffentlicher Mittel zu ermöglichen.“

So kann man den Auftrag des Fonds, seitens der jeweiligen Bundesregierungen der vergangenen Jahre bis heute, in einem einzigen, wenig spektakulär anmutenden Satz zusammenfassen.

Dieser Satz beruht auf dem verfassungsrechtlich garantierten Grundrecht der Kunstfreiheit. Eines der Fundamente unserer offenen, pluralistischen Gesellschaft, deren Freiheit auch darin begründet liegt, Kunst ohne staatliche Zensur anderen Menschen zugänglich machen zu können. Genau dies würde derzeit gerne von als verfassungsfeindlich verdächtigen Parteien nach hiesigen historischen wie internationalen autoritären Vorbildern ausgehöhlt bis abgeschafft werden.

Freie Kunst öffentlich fördern – das heißt die Kunstfreiheit stärken – und damit die Demokratie

Die Juryentscheidungen des Fonds im Rahmen der Vergabeprozesse von NEUSTART KULTUR (innerhalb dessen auch die Förderung von „Lecken“ stattfand) wurden dabei von über 120 Fachexpert*innen aus den verschiedensten Regionen und allen Bundesländern getroffen, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Kunst und Welt blicken, unterschiedliche Professionen ausüben und unterschiedlichen Generationen angehören. So lässt sich, gerade auch im Falle der Produktion „Lecken“ mit Sicherheit sagen: Es handelt sich bei der Förderung der Produktion des queer-feministischen Performance-Kollektivs CHICKS* weder um einen Fehler im System noch eine zufällige Begebenheit, sondern um eine durch vielfache Fachexpertise legitimierte, bewusste und nach demokratischem Verfahren getroffene Entscheidung!

Das muss an dieser Stelle so ausführlich gesagt werden, weil es an der Zeit ist, einem von insbesondere rechtsextremen Kräften geprägten Narrativ, das in den vergangenen Tagen, Wochen, Monaten und Jahren vermehrt geäußert wurde, deutlich zu widersprechen:  Die einzige Bedrohung für die Kunst wie für die demokratische Freiheit sind eben jene Kräfte selbst.

Die Angriffe auf die Fundamente eines möglichst friedlichen Zusammenlebens, das von gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz geprägt ist, und das die Ko-Existenz unterschiedlichster Menschen in unserer pluralen Gesellschaft ermöglicht, sie kommen gerade nicht aus der Freien Kunst. Sie kommen nicht von Gruppen, die sich aus zahlreichen künstlerischen und gesellschaftspolitischen Überzeugungen in ihrem kreativen Schaffen auch ganz spezifischen Publika und marginalisierten Communities zuwenden. Sie kommen von rechtsextrem-autoritären Kräften, von der AfD, die sich entweder selbst kontinuierlich als Opfer und Betroffene maskieren oder aber andere Menschengruppen, die bevorzugt Kinder, als vermeintliche Opfer derjenigen, die sich für eine offene Gesellschaft engagieren, für ihre populistische Propaganda instrumentalisieren.

Der Fall CHICKS* bei WILDWECHSEL-Festival

Beim WILDWECHSEL-Festival in Zwickau, dessen künstlerisches Programm sich gezielt an Kinder und Jugendliche richtet und das im September 2023 stattfand, trafen zwei Dinge für das geplante Gastspiel der Produktion „Lecken“ zusammen: 

Gezielte Anfeindungen aus rechtsextremen Kreisen in Richtung der Produktion, der Künstler*innen und des Festivals und das kurzfristige Ausbleiben einer sicher geglaubten Finanzierung.

Die Inszenierung konnte letztendlich aus pragmatischen, sachlichen, finanziellen Gründen nicht gezeigt werden. Doch die selbst ernannten Kulturkämpfer*innen von rechts sehen sich in ihren Methoden der Anfeindungen und Unterstellungen bestätigt und legitimiert – und können erkennen: Die Kunstfreiheit lässt sich beispielsweise über den Umweg einer ausbleibenden Finanzierung beschränken.

Es lässt sich mit geringem Aufwand erfolgreich Unsicherheit verbreiten. Ausgewählte einzelne Personen, in diesem Fall die Künstler*innen, lassen sich stellvertretend noch einfacher als marginalisierte Gruppen im Pauschalen öffentlich anfeinden: Je unterkomplexer die Erzählung um die vermeintliche Bedrohung dabei gestaltet ist, desto wirkmächtiger zeigt sie sich.

Allen nachträglichen, wichtigen und richtigen Solidarisierungsgesten von Theatern, Netzwerken & Künstler*innen zum Trotz: Den Erfolg in ihrem rücksichtslosen Kulturkampf kann man den Rechtsextremen nur schwer wieder nehmen. Die Verletzungen sind zugefügt, die Unsicherheiten produziert.

Welche Rückschlüsse also lassen sich für Verantwortliche im Feld der Kunst und Kultur, Kulturpolitik und Kultur- und Kunstförderung aus dieser jüngsten Erfahrung ziehen? Welche Konsequenzen kann es geben? Damit den Ewig-Gestrigen nicht erneut unfreiwillig der Stoff für ihre Narrative geliefert wird. Damit wir antizipieren und uns gegenseitig wappnen für die Angriffe, die da in nächster Zeit zu kommen drohen. Für den Fonds Darstellende Künste e.V. gilt:

  1. Die Kunst gehört vor politischer Einflussnahme geschützt. Auch wenn sie selbst politisch ist.
  2. Künstler*innen müssen insbesondere durch die sie fördernden Institutionen kontinuierlich zur Ausübung dieses Grundrechts bestärkt werden.
  3. Im Sinne der Kunstfreiheit zu fördern, heißt gerade auch da (weiter) Förderung zu ermöglichen, wo die Kunst und die sie produzierenden Künstler*innen angegriffen werden.
  4. In einer Zeit, in der der Kulturkampf von rechts eine Renaissance erfährt, sollten die demokratisch gesinnten Kräfte aller kulturpolitischen Lager sich darauf verständigen, sich immer wieder gemeinsam zu bekennen: Angriffe auf Künstler*innen und ihre Kunst sind inakzeptabel und sie stellen Angriffe auf die Kunstfreiheit, auf die Verfassung des Rechtsstaats dar.
  5. Streitbare Kunst muss – immer, aber: jetzt erst recht – ermöglicht werden. 

Der Fonds Darstellende Künste wünscht dem Performancekollektiv CHICKS* weiterhin viel Kraft in dieser herausfordernden Zeit – und freut sich darauf, in kommenden Antragstellungen dessen neue künstlerische Visionen zu erfahren – die dann durch unser Kuratorium genauso kritisch, intensiv und wertschätzend gesichtet und diskutiert werden wie bisher.

Aber im neuen Bewusstsein, was ein einzelner geplanter Auftritt auf einem Festival für Wellen – von Hass, aber auch Solidarität – auslösen kann.

Den Freien Darstellenden Künsten kommt in der Frage der Kunstfreiheit oft eine besondere Verantwortung zu, da sie sich nicht selten in der Zeitgenossenschaft zu den transformatorischen gesellschaftlichen Prozessen bewegen und diese aktiv (mit-)gestalten.

Der Fonds wird rückblickend in den Evaluierungsprozessen zu den pandemiebedingten Fördermaßnahmen des Bundes auch dieses Thema u.a. beim B.A.L.L. auf Kampnagel am 20./21.10.2023 aufgreifen und ihm ein eigenes Labor in Kooperation mit FESTIVALFRIENDS widmen. Zudem ist ein entsprechendes Symposium in Zusammenarbeit mit dem Theaterfestival Impulse im Mai/Juni 2024 in Planung.