Über Artist Labs, Choreografien, Pandemie, Reclam-Hefte und Zeit

Von Marny Garcia Mommertz

Wie inklusiv sind Bühnen und die Räume fürs Publikum? Die Pandemie, Reclam-Hefte und eine Biennale in São Paulo liefern unserer Autorin Marny Garcia Mommertz aufschlussreiche Antworten.

Es ist Anfang September und ich bin online mit der Theatermacherin Mable Preach verabredet, um mit ihr über das Artist Lab „Playful Haus zu sprechen. Während ich versuche, meinen Laptop mit dem WLAN zu verbinden, denke ich an die São Paulo Biennale, die ich ein paar Tage zuvor besucht habe. Sie wurde von vier Kurator*innen präsentiert, drei von ihnen sind Schwarz. Es war das erste Mal, dass diese Biennale von mehrheitlich Schwarzen Expert*innen kuratiert wurde, und so hing in den Tagen vor der Eröffnung Angespanntheit wie Euphorie in der Luft. Als das Team während der Pressekonferenz vorgestellt wurde und erste Jubelrufe aus dem Publikum zu hören waren, bekam ich eine Gänsehaut. Die Ausstellung mit dem Titel „Choreographies of the impossible“, die sich mit teils radikalen Bildern in die Zukunft denkt, ist eine der ersten Gruppenausstellungen, die mich als junge Schwarze Frau mit Bezügen in die Karibik und nach Deutschland wirklich abgeholt und mitgenommen hat. Als Betrachtende hatte ich das Gefühl, angesprochen zu werden und in der Konzeption und vorsichtigen Kuration mitgedacht worden zu sein.

Meine Gedanken werden von einem Geräusch aus meinem Laptop unterbrochen, Mable Preach ist da. Sie berichtet von ihrer Arbeit zu „Playful Haus“, erzählt von ihrem Hauptanliegen, ein Theaterstück zu erarbeiten, in dem gewaltvolle Themen wie die Kolonialgeschichte angesprochen werden. Was ihr Projekt besonders spannend macht, ist der Entstehungsprozess, denn ihr Zielpublikum wirkt aktiv an der Gestaltung des Stückes mit. Es hat bereits ein Workshop stattgefunden, an dem BIPOC Schüler*innen im Alter von sechs bis 17 Jahren sowie Lehrer*innen verschiedener Schulen teilnahmen, um ihre inhaltlichen Wünsche für das Stück miteinzubeziehen. Es sei nicht nur die Intention gewesen, das Stück auf der Bühne zu zeigen, sondern es auch in Form eines Reclam-Heftes zu präsentieren. Einige der Lehrer*innen hatten sich bereit erklärt, das Stück im Unterricht zu behandeln. In meinem Hirn rattert es und ich versuche das Wort „Reclam” einzuordnen. Erst als Mable meine Verwirrung bemerkt und mir auf die Sprünge hilft, erinnere ich mich mit ungutem Gefühl im Magen an die leuchtend gelben Hefte, die ich in der Oberstufe hasste.

In meiner Familie mütterlicherseits ist Lehrer*in ein beliebter Beruf. Ein Urgroßvater, eine Großmutter und zwei meiner Tanten waren oder sind Schullehrer*innen. Schule war also stets ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, und ich habe ihn oft verflucht. Gerade Deutschunterricht empfand ich als elendig langweilig. An und für sich mochte ich Aufgaben wie Gedichtinterpretationen oder Stückanalysen. Doch mein Enthusiasmus wurde immer wieder aufs Neue gedämmt, und ich verstand erst später warum. Die geforderten Interpretationen oder Analysen waren in einem Kanon und einer Denkweise verankert, zu der ich einfach keinen Zugang fand: Nach Ansicht meiner Lehrer*innen interpretierte ich Gedichte und analysierte Stücke „falsch” – und so setze sich das Gefühl fest, dass sie nicht für mich geschrieben waren.

Tatsächlich geht es in vielen deutschen Schulen bis heute um das Erlernen eines bestimmten Kanons und um bestimmte Lesarten von Werken, die sich nicht mit den Lebensrealitäten vieler Schüler*innen decken. Es macht einen dramatischen Unterschied, wenn im Deutschunterricht auch Stücke durchgenommen werden, in denen ein nicht-weißes deutsches Publikum Dreh- und Angelpunkt ist. Wahrscheinlich wären auch manche Widerstände gegenüber Reclam-Heften geringer, die in meiner Erinnerung für überkommene Lehrpläne stehen.

Eine der Schüler*innen erzählte im Lab, für sie seien Inhalte im Theater mindestens genauso entscheidend wie Repräsentation. Ihr sei nicht nur wichtig, dass auch Schwarze Menschen oder Menschen auf der Bühne stünden, sondern, dass sie bestimmte Inhalte vermittelten. Wieder muss ich an die Biennale denken. Die Ausstellung in São Paulo hat mich aus dem gewohnten Umfeld eines weiß dominierten Kunst - und Kulturumfelds herausgerissen. Was noch drei Wochen später in mir arbeitet, sind die gezeigten Inhalte: die Auseinandersetzungen mit Archiven und Erinnerungen der Schwarzen Diaspora. Mit einem Raum, in dem Dialog und Austausch zwischen Schwarzen und Indigenen künstlerischen Perspektiven der Karibik, Brasilien und Europa möglich geworden waren. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, nicht nur Betrachterin dieser „unmöglichen” Ausstellung zu sein, sondern in sie überzugehen und Teil ihrer Bewegungen und Choreografie zu werden.

Während eines Lockdowns in der Pandemie habe ich Tina Campts “A Black Gaze” gelesen. In der Einführung des Buchs beschreibt sie ihren Vorgang, Kunstwerke zu betrachten: Sie setze sich mit Stift und Notizbuch auf den Boden vor die Arbeiten und nehme sich Zeit, sie auf sie wirken zu lassen. Als in São Paulo Fotograf*innen und andere Journalist*innen bei der Vorschau der Biennale durch die Ausstellung liefen, war ich gestresst und angespannt. Die Fülle der Werke schien überwältigend. Dann dachte ich an Campt, auf die ich zufällig Stunden später traf, und setzte mich mitten in eine Installation, die mich besonders anzog. Im Laufe meines Biennale-Besuchs verbrachte ich so mehrere Stunden mit verschiedenen Werken und auch in realen Gesprächen mit ihren Erschaffer*innen. Diese Entschleunigung eines ansonsten durch getakteten Biennale-Programms erinnert mich im Nachhinein an Momente im Lockdown, während der Pandemie. Auch damals war es essenziell, individuelle Mechanismen und einen eigenen Rhythmus zu entwickeln, um mit Ängsten, Sorgen und Aufregung umzugehen. In São Paulo hat mir der Gedanke daran geholfen, zu dieser Strategie zurückzukehren, um bei mir und produktiv zu bleiben.

Das Artist Lab von PSR Collective setzt sich unter dem Titel „Social Choreographies in a Troubling Time and Place“ ebenfalls mit der Identifizierung von Vorgehensweisen, Erkenntnissen und Strategien aus der Hochphase der Pandemie auseinander. Zusammen mit Kollaborateur*innen aus der Freien Szene untersucht das Kollektiv Erfahrungen aus der Zeit pandemischer Restriktionen und bezieht sich dabei auf verschiedene Themenschwerpunkte: auf den Umgang mit zeitlichem Empfinden und mit räumlichen und nationalen Grenzen. Auch setzt es sich mit den spezifischen Erfahrungen von Kollektivmitglieder, die mit chronischen Krankheiten leben und in der Mehrheitsgesellschaft marginalisiert werden. Im Gespräch erzählt mir PSR-Mitglied und Dragqueen Olympia Bukkakis, es gehe darum, zu verstehen, wie verschiedene Formate, die in dieser Zeit entstanden sind, Communities zusammenbrachten. Welche Strategien beibehalten oder auch ausgebessert wurden.

So wie viele der diesjährigen Labs versucht die Gruppe um Bukkakis zu verhandeln, wie vor allem marginalisierte Künstler*innen, Publika und Communities besser zusammenfinden können. Sie erkunden, wie der Begriff „soziale Choreografie” sich im Theater und darüber hinaus mit Leben füllen lässt. Denn, performt nicht jede*r ständig „soziale Choreografien", unfreiwillig oder gewollt? War es letztlich nicht auch das Unwohlsein innerhalb einer erlernten Choreografie, das mich im Biennale-Pavillon aus vertrauten Mustern ausbrechen ließ? Das mich vom teilnahmslosen Betrachten zu den gedanklichen Experimenten und Choreografien durch eine statische Ausstellung bewegt hat?

Im Sommer 2023 haben freie Künstler*innen-Gruppen in 64 Bundesweiten Artist Labs das Verhältnis zum Publikum in post-pandemischen Zeiten untersucht. Unsere Redakteurin Elisabeth Wellershaus und ein Team aus Gastautor*innen haben ihnen dabei über die Schulter geschaut.

Marny Garcia Mommertz setzt sich als Autorin und Künstlerin mit Archiven und Erinnerungen Schwarzer Menschen und Gemeinschaften in Europa, Kuba und Brasilien auseinander. Aktuell arbeitet sie als Managing Editor für Contemporary And América Latina und ist Fellow bei PACT Zollverein in Essen. Sie hat einen M.A. in Museum Studies von der Universität Amsterdam.